Obama braucht Zeit, um die Probleme innerhalb der USA anzugehen – Zeit, die ihm außenpolitisch fehlt, sagt Ruprecht Polenz.
Interview mit der Stuttgarter Zeitung am 6. November 2010
Nach dem schlechten Abschneiden bei den Kongresswahlen geht Barack Obama auf die Opposition zu. Der US-Präsident wird sich demnächst weniger um die Außenpolitik kümmern können, ist Ruprecht Polenz (CDU) überzeugt. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages sieht Europa in der Pflicht, die Reihen zu schließen.
Herr Polenz, wie wirken sich die Kongresswahlergebnisse auf die US-Politik aus?
Die Wahlen haben noch einmal gezeigt, wie gespalten Amerika ist. Dadurch ist eine schwierigere Situation für Präsident Obama entstanden: Er wird innenpolitisch mehr gefordert sein als bisher. Außenpolitisch weiß jetzt jeder, dass der US-Präsident nicht ohne weiteres sein ganzes Land hinter sich hat. Obama kann zwar weiter agieren wie bisher, aber er wird viel mehr Zeit benötigen, um die Probleme im Inneren der Vereinigten Staaten anzugehen.
Was bedeutet das für die europäische und deutsche Außenpolitik?
Die Europäer müssen sich darauf einstellen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Beispielsweise die Unterstützung im Nahostprozess muss diplomatisch aktiver sein. Aber auch in direkter europäischer Nachbarschaft werden wir uns stärker einbringen müssen, etwa im Hinblick auf die Ukraine, Russland oder die Kaukasusregion. Europa muss diese Wahlen zum Anlassnehmen, sich verstärkt darum zu bemühen, außenpolitisch mit einer Stimme zu sprechen und gemeinsam zu agieren.
Was muss die EU konkret tun?
Nehmen Sie etwa den Balkan: Dort gibt es viele Baustellen, etwadie Stagnation in Bosnien, der Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo oder der Namensstreit zwischen Griechenland und Mazedonien. Wir Europäer haben ein Interesse an der Lösung dieser Probleme. Auf der amerikanischen Agenda steht dies sicher nicht unter den ersten 10. Die USA werden zwar weiter mit Truppen vor Ort präsent sein, aber den aktiv-diplomatischen Part müssen zunehmend wir Europäer übernehmen.
Sie sehen das als Chance für Europa?
Wir können es so nennen, aber es bedeutet zunächst einmal eine große Anstrengung. Wenn Europa es nicht schaffen sollte, dann werden andere die entstehenden Lücken schließen. Das kann bedeuten, dass sich Konflikte ausdehnen oder dass andere Staaten ihren Einfluss ausdehnen – was nicht im europäischen Interesse sein kann.
Sehen Sie Auswirkungen auf die europäisch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen?
Nein. Bei aller weltweitenFreude über Obamas Wahlsieg von 2008 war es doch so, dass die Tendenz der Demokraten zu protektionistischen Maßnahmen auch Anlass zur Sorge geboten hat. Die haben sich glücklicherweise nicht in der von manchem befürchteten Form bewahrheitet. Bei den Republikanern besteht diese Gefahr möglicherweise noch etwas weniger.
In welche Richtung entwickelt sich Amerika innenpolitisch: Annäherung oder Stillstand?
Die Hoffnung besteht natürlich, dass sich Republikaner und Demokraten aufeinander zubewegen und Schnittmengen herstellen, die fast nicht mehr vorhanden sind. Das braucht jede Demokratie, und es könnte das Land wieder stärker zusammenführen. Ich bin allerdings skeptisch: Es könnte auch sein, die Republikaner halten an ihrer bisherigen Strategie fest, die sich vor allem auf Ablehnung aller Obama-Vorschläge konzentriert.
Das Gespräch führte Thomas Thieme.