Ruprecht Polenz

"Unterm Strich profitieren wir"

Die CDU muss ihre Position verändern, meint Ruprecht Polenz. Der renommierte Außenpolitiker sprach mit news.de über seine Sympathien für die Türkei, über Masseneinwanderung nach einem EU-Beitritt und über die Herausforderung des Islamismus.

Herr Polenz, Sie haben ein Buch geschrieben, in dem Sie den EU-Beitritt der Türkei fordern. Der Titel ist «Besser für beide». Was hat die EU eigentlich davon, wenn sie die Türkei aufnimmt?

Polenz: Die Herausforderung für das 21. Jahrhundert ist die Überwindung der wachsenden Spannungen zwischen den islamischen Ländern und dem Westen. Die Europäische Union braucht die Türkei, weil wir in Zukunft auf steigende Öl- und Gasimporte angewiesen sein werden. Zweitens hat die EU ein Interesse daran, dass die angrenzenden Länder friedlich, stabil und wohlhabend sind. Wenn die Türkei – und das ist natürlich die Voraussetzung für einen Beitritt – die Beitrittskriterien erfüllt, dann zeigt sie, dass unser Verständnis von Rechtsstaat, von Demokratie, und Menschenrechten auch ein Modell für Staaten mit muslimischer Bevölkerung ist. Dass Islam und Demokratie also miteinander vereinbar sind. Und sie würde gleichzeitig zeigen, dass Europa keinen Kampf der Kulturen will.

Die Bundeskanzlerin glaubt, dass diese Ziele mit einer «privilegierten Partnerschaft» besser zu erreichen sind.

Polenz: Die Türkei steckt in einem tiefgreifenden Änderungsprozess, den wie ich denke auch die Bundeskanzlerin will, und auch die Mehrheit meiner Partei. Den vollen europäischen Rechtsrahmen nicht nur auf dem Papier zu übernehmen, sondern ihn auch in die Praxis zu überführen, setzt große Anstrengungen voraus, bedeutet auch das Überwinden von Widerständen im eigenen Land. Das schafft man nur mit einem klaren und erstrebenswerten Ziel. Die türkischen Regierungen haben uns deutlich zu verstehen gegeben, dass eine privilegierte Partnerschaft diese Attraktivität einfach nicht hat.

Also muss die CDU ihre Position ändern?

Polenz: Deshalb habe ich das Buch geschrieben – um meine Parteifreunde zu überzeugen, ihre Position zu überdenken. Ich habe auch daran erinnert, dass die Position der CDU in der Vergangenheit nicht immer so war wie jetzt. Noch Helmut Kohl hat klar davon gesprochen, dass, wenn die Türkei die Beitrittskriterien erfüllt, sie dann natürlich auch beitreten könne.

Woher kommen eigentlich Ihre Sympathien für die Türkei?

Polenz: Ich mag die Menschen. Ich habe mich mit der gemeinsamen Geschichte beschäftigt. Ich bin der Türkei zum Beispiel dafür dankbar, dass viele verfolgte deutsche Intellektuelle in den 1930er Jahren haben Zuflucht finden und an türkischen Universitäten lehren können, nachdem man ihnen das an deutschen Universitäten wegen ihrer jüdischen Abstammung untersagt hatte. Das sind Dinge, die in Deutschland nicht allzu bekannt sind. Aber es ist, neben einer Grundsympathie, vor allem eine Interessenüberlegung. Wenn wir der Türkei sagen: «Ihr werdet nicht zu uns gehören», dann wird das von den türkischen Einwanderern in Deutschland als klare Botschaft verstanden, nach dem Motto: «Und euch wollen wir auch nicht.» Und das macht eine erfolgreiche Integration unmöglich.

Die deutsche Bevölkerung sieht das anders. Umfragen zufolge sind zwei Drittel der Deutschen gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Sie befürchten massenhafte Zuwanderung aus Anatolien.

Polenz: In dem Verhandlungsrahmen mit der Türkei ist, anders als bei den mittel- und osteuropäischen Kandidaten geregelt, dass jedes einzelne Mitgliedsland die Freizügigkeit mit der Türkei dauerhaft beschränken kann. Dem hat die Türkei zugestimmt.

Würde ein Beitritt der Türkei für die EU nicht neue, teure Transferzahlungen bedeuten?

Polenz: Wenn wir fragen, was die Türkei für die Landwirtschaft bekommen würde, was aus den Regionalfonds, wenn sie heute beitreten würde – dann kommt man auf vergleichsweise hohe Summen. Aber ich halte das für eine völlig abwegige Herangehensweise. Denn erstens steht der Beitritt der Türkei nicht heute oder morgen auf der Tagesordnung. Und zweitens müssen wir die Landwirtschaftspolitik sowieso ändern, denn es kann nicht weiter angehen, dass wir über 40 Prozent des EU-Haushalts für diesen Bereich verwenden. Auch die EU-Kommission sagt im Übrigen, dass die Kosten eines EU-Beitritts der Türkei Verhandlungssache sind. Natürlich wäre die Türkei auf längere Sicht Empfängerland. Und das kann auch heißen, dass Regionen, die jetzt zu den ärmeren gehören, dann aus der Entwicklungsförderung der EU herausfallen. Aber unterm Strich profitiert die Europäische Union als Ganzes, und insbesondere auch wir Deutschen, von einem Beitritt der Türkei.

Sie sagen, man darf nicht auf den Status Quo schauen. Der bietet auch in anderer Hinsicht Anlass zu Zweifeln – etwa, wenn man die Lage der Christen in der Türkei anschaut, oder nationalistische Tendenzen in Justiz und Militär.

Polenz: Die Türkei muss zu einer neuen Balance zwischen Staat und Zivilgesellschaft finden. Im Denken vieler Türken ist der Staat der Gesellschaft übergeordnet, das muss sie ändern, und zwar nicht nur auf dem Papier. Es geht um das Staatsverständnis im Justizapparat. Die Verfassung stammt noch von den Militärs aus dem Putschjahr 1980. Und natürlich geht es um die Rechte religiöser Minderheiten, insbesondere der Christen, und überhaupt um das Verhältnis von Staat und Religion. Die Form, wie die Türkei den Islam als Staatsislam praktiziert, ist mit den europäischen Vorstellungen von Religionsfreiheit nicht ohne weiteres vereinbar.

Glauben Sie, dass die Türkei auf einem guten Weg ist? Oder kommen Ihnen manchmal Zweifel – etwa angesichts der scharfen Ausfälle von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gegen Israel im jüngsten Drama um die Gaza-Hilfsflotte?

Polenz: Natürlich haben wir ein Interesse daran, dass sich die Türkei weiterhin als ein strategischer Partner Israels versteht. Die gegenwärtigen Spannungen haben diese Partnerschaft in Gefahr gebracht. Die Frage ist: Würde das dadurch besser, dass wir der Türkei die EU-Perspektive nehmen? Wir haben in der Türkei zwei große Versuchungen, was die künftige Entwicklung angeht: Einen übersteigerten Nationalismus und den Islamismus, der letztlich die Demokratie in Frage stellen würde. Vor beiden Gefahren schützt die Türkei auch der EU-Prozess.

Hat die Türkei denn eigentlich selbst noch Interesse an einem EU-Beitritt? In letzter Zeit scheint sie sich eher als eine Art Regionalmacht etablieren zu wollen und die Beziehungen zu den Nachbarn zu stärken.

Polenz: In der Türkei gibt es tatsächlich einige, die sich jetzt die Frage stellen: «Brauchen wir die EU denn überhaupt?» Die Klügeren wissen aber sehr genau, dass die regionale Stellung der Türkei unlöslich verbunden ist mit dem EU-Prozess. Sie wissen, dass die Außenpolitik auch von der wirtschaftlichen Kapazität des jeweiligen Landes abhängt. Mit dem Beginn des Beitrittsprozesses sind die Auslandsinvestitionen in der Türkei von etwa ein bis zwei Milliarden Euro auf über 20 Milliarden jährlich angestiegen. Dazu kommt: Die Türkei ist in einem ähnlichen geostrategischen Dilemma wie Deutschland. Sie ist zu groß, um einfach balanciert zu werden, aber zu klein, um in ihrer Region unbestrittene Führungsmacht zu sein. Für Deutschland ist dieses Dilemma durch die EU aufgehoben, und einen ähnlichen Effekt hat schon der EU-Beitrittsprozess für die Türkei. Deshalb wissen die klügeren Außenpolitiker in der Türkei, wie wichtig dieser Prozess für sie ist.

 

Ruprecht Polenz (64) ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, dem er seit 1994 angehört. Er ist Mitglied im Landesvorstand der CDU in Nordrhein-Westfalen. Der gelernte Jurist ist Vorsitzender der Christlich-Muslimischen Friedensinitiative und Kuratoriumsmitglied der Stiftung Entwicklung und Frieden.