Ruprecht Polenz

"Ukraine braucht Leuchtturm zu einem guten Hafen"

Ruprecht Polenz im Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 30.04.2012

Peitsche und Zuckerbrot: Wegen Timoschenko drohen immer mehr Politiker der Ukraine mit einem EM-Boykott. Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, tut das auch. Aber dazu hat er noch eine überraschende Idee, wie Europa das Land wieder auf den richtigen Weg bringen kann.

Herr Polenz, ist es richtig, die Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine zu boykottieren?


Herr Polenz, ist es richtig, die Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine zu boykottieren?

Ja. Das Verhalten gegenüber Frau Timoschenko symbolisiert eine allgemeine Verschlechterung der Menschenrechtssituation, die Instrumentalisierung der Justiz gegen Oppositionspolitiker und die zunehmende Beschränkung der Pressefreiheit. In dieser Lage müssen sich Politiker schon gut überlegen, ob sie sich wirklich zu den Vertretern der ukrainischen Regierung auf die Ehrentribüne setzen und gemeinsam Tore bejubeln wollen. Meine Meinung ist, dass sie es lieber nicht tun sollten.

Beeindruckt so ein Boykott die ukrainische Regierung? Tut er weh?

Ja. Für die Ukraine ist die Europa-Meisterschaft nicht nur sportlich von Bedeutung, sondern natürlich auch politisch. Die EM ist eine große Chance für die Ukraine, sich als europäisches Land zu präsentieren. Das Land hat in den vergangenen Jahren immer wieder Ambitionen zum Ausdruck gebracht: Wir wollen näher an Europa rücken, wir wollen am liebsten Mitglied der Europäischen Union werden. Diese Ansprüche hätte man durch eine rundherum gelungen Europa-Meisterschaft unterstreichen können. Und nun wirft das Verhalten der Regierung selbst den größten Schatten auf diese EM.

Die Situation ist verfahren. Kann es sich der ukrainische Präsident überhaupt noch leisten, Frau Timoschenko ausreisen zu lassen?

Es ist nicht so, dass wir von Präsident Janukowitsch etwas verlangen, was er nicht liefern kann. Wir haben ihm signalisiert, dass wir im Fall Timoschenko eine humanitäre Geste erwarten. Die ukrainische Regierung kann doch sagen, dass sie bei ihrem Rechtsstandpunkt bleibt, aber Frau Timoschenko aus humanitären Gründen eine medizinische Behandlung im Ausland gestattet, weil sie nach Auskunft der Ärzte diese Behandlung in der Ukraine nicht bekommen kann. Das ist keine hohe Hürde.

Jenseits des Falles Timoschenko: Welche Möglichkeit hat Europa, auf die Ukraine Einfluss zu nehmen?

Die Europäische Union hat in den letzten 20 Jahren eine Partnerschaftspolitik für die Ukraine entwickelt. Sie hat ein Assoziierungsabkommen ausgehandelt, das zu einer großen Freihandelszone führt. Aber wenn wir jetzt Bilanz ziehen, müssen wir erkennen, dass das Instrumentarium, das die Europäische Union bisher eingesetzt hat, um die Ukraine näher an Europa zu führen, nicht ausreichend war.

Was müsste denn geschehen?

Die Ukraine selbst hat immer wieder die Frage nach einem EU-Beitritt aufgeworfen. Aber die EU hat sich nie festlegen wollen, ob sie jemals bereit sein könnte, mit der Ukraine über eine Mitgliedschaft zu verhandeln. Dieses politische Bekenntnis ist es, was bisher gegenüber der Ukraine gefehlt hat. Wenn man in der Dunkelheit seinen Weg sucht, ist es hilfreich, wenn in der Ferne ein Leuchtturm steht, der einem den Weg zu einem guten Hafen zeigt.

Die EU sollte der Ukraine Beitrittsverhandlungen anbieten?

Ganz sicher nicht heute oder morgen. Was ich vorschlage, ist ein politisches Bekenntnis, dass der Ukraine ganz am Ende des Weges die Tür offen steht. Dass die Ukraine, wenn sie sich in die richtige Richtung entwickelt, in 15 oder 20 Jahren den Beitrittsprozess beginnen kann. Ich würde ein solches Bekenntnis für richtig halten, trotz Euro-Krise und Erweiterungsmüdigkeit.

Und was passiert, wenn sich die Ukraine nicht in die richtige Richtung entwickelt?

Das Assoziierungsabkommen, das für die Ukraine einen großen Schritt in Richtung Europa bedeutet, ist paraphiert, aber noch nicht ratifiziert. Wenn sich die Menschenrechtslage in der Ukraine nicht rasch entscheidend verbessert, sehe ich bei der Ratifizierung in den Parlamenten große Probleme voraus.

Auch in Deutschland.

Ja, auch in Deutschland. Das muss die Ukraine wissen. Sie hat ein großes Interesse daran, mit einem Binnenmarkt von 500 Millionen Menschen möglichst eng zusammenzuarbeiten. Aber zu einer solchen Zusammenarbeit gehört aus unserer Sicht eben auch eine bestimmte Kleiderordnung: Respekt für die Pressefreiheit und ein anderer Umgang mit der politischen Opposition. Bei der Fokussierung auf Frau Timoschenko ging ein bisschen verloren, dass noch gegen weitere 20 frühere Regierungsmitglieder staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren laufen. Vier Minister sind bereits zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Aus Umfragen weiß man, dass 80 Prozent der Ukrainer davon überzeugt sind, dass die Justiz zu politischen Zwecken missbraucht wird.

Braucht es Sanktionen?

Ich will jetzt nicht die Skala möglicher weiterer Schritte durchdeklinieren. Wir sollten darauf setzen, dass die Ukraine erkennt, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, den Kurs zu ändern. Dass Präsident Janukowitsch gegenüber Frau Timoschenko sehr bald eine humanitäre Geste macht, denn jeder Tag ist für sie mit Schmerzen und großen Risiken für die Gesundheit verbunden. Und dass das eigene Interesse der Ukraine an positiver wirtschaftlicher Entwicklung dazu beiträgt, sie wieder auf den Kurs zu führen, der 2004 so hoffnungsvoll mit der Orangen Revolution begonnen hat.

Interview: Bettina Vestring