Ruprecht Polenz

Leisetreterei hilft nicht - Die Bundesregierung muss gegenüber Russland Position beziehen - Von Ruprecht Polenz, Beitrag für die FAZ

Schröders China-Besuch hat Schlagzeilen gemacht. Als hätten wir ein Interesse an Chinas weiterer Aufrüstung hat er ein Ende des Waffenembargos gefordert. Marktchancen ohne Rücksicht auf Menschenrechte und potentielle Krisen (Taiwan)?
Es fällt auch auf, dass die Bundesregierung zu den besorgniserregenden Entwicklungen in Russland so beredt schweigt. Kein Schatten öffentlich geäußerter Kritik soll auf das immer wieder vorgezeigte Glanzbild der Freundschaft zwischen Bundeskanzler Schröder und Präsident Putin fallen. Diese Schweigsamkeit zu Vorgängen, die deutlichen Widerspruch erfordern, ist ein schwerer außenpolitischer Fehler und könnte uns noch teuer zu stehen kommen. Denn wenn Russland sich Schritt für Schritt zurückentwickelt zu einem staatsautoritären und undemokratischen System – und die Anzeichen dafür häufen sich -, so kann uns das nicht gleichgültig lassen. Schließlich sind wir als Nachbarn im „gemeinsamen europäischen Haus“ (Gorbatschow) unmittelbar davon betroffen.

Die Yukos-Affäre ist vorläufiger Höhepunkt einer Strategie Putins, die russische Gesellschaft Schritt für Schritt gleichzuschalten und keinerlei unabhängige Macht außerhalb des Kreml zu dulden. „Die Verhaftung Chodorkowskijs ist kein Beweis für die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. Es ist eine Demonstration der Gleichheit der Bürger vor der Willkür“, so die Erklärung der Gesamtrussischen Konferenz zivilgesellschaftlicher Organisationen.

Vorausgegangen war die Gleichschaltung des Fernsehens. Durch die Entmachtung von Berezovsky sicherte sich Putin den Zugriff auf ORT, den Sender mit den größten Marktanteilen. RTR ist als staatlicher Sender sowieso unter seiner Kontrolle. Den Haupteigner von NTV, Vladimir Gusinsky, schaltete die Staatsanwaltschaft mit einer Anklage wegen Wirtschaftsvergehen aus. Damit kontrolliert der Kreml heute de facto alle landesweiten Fernsehsender in Russland.

Entmachtet wurden auch die zweite Kammer des Parlaments, der Föderationsrat, und die Provinzgouverneure, die bis in die 90er Jahre eine gewisse Selbständigkeit genossen hatten. Geheimdienstler und Armeeangehörige, die sog. Silowikij, halten inzwischen durch Putins gezielte Kaderpolitik über ein Viertel aller wichtigen Posten.

Die Kreml-Partei „Einiges Russland“, deren Gründungs- und Hauptzweck die Unterstützung Putins ist, wirbt derzeit im Parlamentswahlkampf mit einem Plakat, auf dem neben berühmten Dichtern und Denkern Russlands auch ein Bild des Sowjet-Diktators Stalin prangt. Offensichtlich in werblicher Absicht.

Wie wenig wichtig dem Kremlchef die Einhaltung der Menschenrechte ist, zeigt das brutale Vorgehen von Armee und Sicherheitskräften in Tschetschenien. Raub, Verschleppung, Mord und Vergewaltigung sind an der Tagesordnung. Mehr als 100 000 Menschen wurden getötet. 400 000 sind geflüchtet. Grosny liegt in Schutt und Asche.

Nur wenn man diese Vorgänge im Zusammenhang sieht, kann man verstehen, warum der berühmte russische Menschenrechtler und Duma-Abgeordnete Sergej Kowaljow zu so drastischen Worten greift:

„Vor welcher Wahl Russland heute steht, liegt auf der Hand. Entweder wir finden unter Mühen auf den Weg des Rechts und damit Anschluss an die Entwicklung, die der Menschheit die beste Perspektive weist, oder wir versinken erneut im Sumpf der Staats- Traditionen des Reiches von Byzanz und der Goldenen Horde.“

Von der deutschen Bundesregierung zu all dem kein Wort. Der Bundeskanzler sprach nach dem 11. September von der Notwendigkeit einer „Neubewertung“ der Lage in Tschetschenien und lobte vor dem Referendum in der Kaukasusrepublik öffentlich „gute Ansätze“ in der russischen Tschetschenienpolitik. Man hat nicht gehört, dass er dieses Lob zurückgenommen hätte, nachdem sich das Referendum als gefälscht herausgestellt hat. Auch die Farce der tschetschenischen Präsidentenwahl wurde von ihm nicht kritisiert.

Die Bundesregierung handelt nach dem kurzsichtigen Motto: Wir schweigen zur Entdemokratisierung Russlands, dafür garantiert Putin dort Stabilität. Wir kritisieren die Tschetschenienpolitik nicht länger, dafür macht Russland mit beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Wir sind Russland behilflich beim Zugang zu den globalen Wirtschaftsorganisationen, dafür können wir Öl und Gas importieren und in Sibirien investieren.

Aber diese Rechnung geht nicht auf: Auf längere Sicht könnte der Westen bei einem Sieg der Silowikij nämlich nicht sicher sein, ob nicht der alte imperiale Staat, die alte aggressive, antiwestliche Sowjetmacht wiederbelebt würde, warnt der russische Duma-Abgeordnete Wladimir Ryschkow.

Leisetreterei hilft nicht. Wir müssen die Liberalisierer in Russland deutlich und vernehmbar unterstützen. Sie sind es, die sich für ein demokratisches, rechtsstaatliches und marktwirtschaftliches Russland einsetzen. Mit ihnen müssen wir eintreten für wirklich freie Parlamentswahlen im Dezember, private Fernsehstationen, eine unabhängige Justiz, freies Unternehmertum, Bürgerrechtsvereinigungen und Zivilgesellschaft.

Das bedeutet keine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten, sondern unterstreicht unser Interesse an gutnachbarschaftlichen Beziehungen und enger Zusammenarbeit mit Russland – aber einem Russland, das sich zu einem Rechtsstaat und einer stabilen Demokratie entwickelt.

Putin liegt viel an seinem Ansehen im Westen. Gern hat er sich im Kreis westlicher Staatsoberhäupter und Regierungschefs gesonnt bei den prächtigen 300-Jahr-Feiern in St. Petersburg und alles darangesetzt, dass der Tschetschenienkonflikt in der Abschlusserklärung des Russland-EU-Gipfels nicht auftauchte. Viel spricht deshalb dafür, dass er deutliche Kritik an seiner zunehmend autoritären Politik nicht in den Wind schlagen würde.

Ruprecht Polenz ist ehemaliger Generalsekretär der CDU und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages