Islam, Integration, Leitkultur: Zu diesen umstrittenen Begriffen habe ich unter dem Titel "Es lebe der Unterschied" einen Artikel geschrieben, der in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 12.12.2004 veröffentlicht wurde.
Seit dem Mord an Theo van Gogh wird auch hierzulande oft in einem trüben Topf zusammengerührt, was auseinander gehalten werden muss, wenn Emotionen nicht noch stärker hochkochen sollen. Wir müssen scharf trennen zwischen der Weltreligion Islam und einem ”politischen Islamismus", der als extremistische Weltanschauung unvereinbar ist mit der Wertordnung des Grundgesetzes. Der politische Islamismus (laut Verfassungsschutzbericht 2003 ein Prozent der Muslime in Deutsch- land) versucht, den islamischen Glauben zu instrumentalisieren, um unsere grundlegende Wertordnung zu negieren, die Distanz der Muslime zur Mehrheit der Bevölkerung zu vergrößern und bestehen- de Parallelstrukturen zu vertiefen. Diesen politischen Islamismus müssen wir bekämpfen und auszutrocknen versuchen. Dabei werden wir nur Erfolg haben, wenn wir die politischen Islamisten von der über- großen Mehrheit verfassungstreu- er, friedliebender Muslime unter- scheiden. Nur in einem Bündnis mit den toleranten Muslimen wer- den wir die bestehenden Spannun- gen friedlich überwinden und aus- gleichen können. Zu warnen ist auch vor der Eindeutigkeit, mit der die Verwerfun- gen zwischen dem Westen und islamischen Ländern und die Spannun- gen innerhalb dieser Länder in den Bereich der Religion verschoben werden, obwohl sie vielfach politisch und ökonomisch begründet sind. Den Protagonisten dieser kulturalistischen Sichtweise fällt gar nicht auf, dass sie damit den Islamisten in die Hände spielen, die in ihrer Propaganda alles zu einem Konflikt mit dem ”wahren, ursprünglichen Islam" machen. Sind Konflikte erst in einen religiösen Bezugs- rahmen verschoben, gibt es keine Lösung mehr außer dem totalen Sieg einer Seite. Denn Religion handelt vom Absoluten. Der Mord an van Gogh hat auch bei uns eine Debatte über Fehler und Versäumnisse bei der Integration von Ausländern ausgelöst. Ge- stritten wird darüber, was an Integration zu fordern sei, wieviel wir alle miteinander gemeinsam haben müssen, damit wir in Deutschland gut zusammenleben können. Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass die Freiheit und das Recht zum individuellen und kollektiven Unter- schied in religiöser Überzeugung wie in Lebensstil und alltäglicher Lebenskultur geradezu Wesensmerkmal einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie sind. Das Grundgesetz verbürgt Religionsfreiheit, und es garantiert die Freiheit für Punks und Banker genauso wie für Muslime, Persönlichkeit und Status durch selbstgewählte Kleidung auszudrücken.
Damit wir diese kulturelle Vielfalt erhalten können, brauchen wir eine gemeinsame politische Leitkultur, der sich alle verpflichtet fühlen müssen, die auf Dauer in unserem Land leben. Zu dieser politischen Leitkultur gehören die für ein gedeihliches Zusammenleben unerlässlichen politischen und sozialen Grundwerte, der Schutz von Individuen und Minderheiten, wie sie unser Grundgesetz und unsere Rechtsordnung definieren. Dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind, darf auch durch religiöse Begründungen nicht in Frage gestellt wer- den. Und weil Zusammenleben Verständigung erfordert, gehört Deutsch als gemeinsame Sprache ebenfalls zur politischen Leitkultur. Auf Dauer sollen die Integrationsprozesse zu einer Identifikation der Einwanderer mit Deutschland als ihrer neuen Heimat führen. Da- bei kann es angesichts der Vielfalt deutscher Lebenskulturen nicht um die Identifikation mit einer be- stimmten Lebenskultur gehen. Es geht bei der Integration deshalb nicht um kulturelle, sondern um politische Identität. Erreicht werden muss, dass sich die Zuwanderer politisch mit Deutschland identifizieren. Politische Identität im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft wächst neben der Erinnerung an gemeinsame Vergangenheit und Geschichte in erster Li- nie aus der Erkenntnis, von politischen Entscheidungen des Staates über Steuern und Schule, Straßen- bau oder Gesundheitswesen in gleicher Weise betroffen zu sein, und aus der Möglichkeit, diese Entscheidungen beeinflussen zu können. Wie eine Barriere behindern sich abschottende Parallelgesellschaften die Erkenntnis der in ihnen Lebenden, dass sie zu dem größeren Ganzen Bundesrepublik gehören. Außerdem tendieren Parallelgesellschaften dazu, ihren Mit- gliedern Grundrechte vorzuenthalten, die für alle Gültigkeit haben müssen. Wichtig ist, dass Zuwanderer politisch mitgestalten können. Auch wenn politische Partizipation bei Wahlen erst nach der Einbürgerung möglich ist, könnten die Parteien hier mehr tun. Ihr Beitrag zur Integration von Einwanderern bestünde darin, sich mehr als bisher um Mitwirkung und Mitgliedschaft von Ausländern zu bemühen.