In der Debatte über die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr (ISAF und Tornado-Einsatz) führte Ruprecht Polenz folgendes aus: "Etwa 60 Prozent der Menschen in Deutschland antworten auf die Frage, ob die Bundeswehr in Afghanistan bleiben soll: Holt sie nach Hause. Hingegen sagen 80 Prozent der Menschen in Afghanistan: Bitte, bleibt bei uns; wir brauchen euch so lange, bis wir selber für unsere eigene Sicherheit sorgen können. Diese unterschiedlichen Meinungsspiegel in den jeweiligen Bevölkerungen machen deutlich: Man hat in Afghanistan sehr wohl verstanden, dass der zivile Aufbau ohne eine Absicherung durch Streitkräfte - sie müssen noch aus dem Ausland kommen, weil man selber nicht stark genug ist - unabdingbar ist, während in Deutschland - gerade unter dem Eindruck der Berichterstattung über den Irakkrieg - der Eindruck entsteht, dass es in Afghanistan so ähnlich wie im Irak werden könnte und dass man sich deshalb lieber früher als später zurückziehen müsse."
Es stellt sich die Frage: Warum sind wir dort? Das müssen wir mit den Bürgerinnen und Bürgern hier in Deutschland besprechen. Wenn die Talibanregierung Bin Laden nach den Anschlägen vom 11. September an die USA ausgeliefert hätte, dann wären unsere Truppen wahrscheinlich nicht in diesem Land. Weil sie das aber nicht getan haben, weil sie vielmehr den Eindruck erweckt haben, entschlossen zu sein, weiterhin mit al Qaida zusammenzuarbeiten und ihr einen Zufluchtsort zu gewähren, hat sich die Entwicklung dann so vollzogen, wie sie sich vollziehen musste, im Interesse unserer eigenen Sicherheit.
Die Biografien der Attentäter vom 11. September, die aus verschiedenen Ländern kamen und ganz unterschiedliche Personen waren, hatten eines gemeinsam: Sie waren alle für Wochen und Monate in Trainingskamps der al Qaida in Afghanistan gewesen. Wir wissen inzwischen, dass die Anschläge der al Qaida europaweit, weltweit Opfer gefordert haben – darunter auch Deutsche in anderen Teilen der Welt. Die Anschläge in London und Madrid und das, was im Sauerland geplant wurde, gehen ebenfalls auf al Qaida zurück.
Die Menschen bei uns fragen sich: Wie lange muss die Bundeswehr in Afghanistan bleiben? Die Antwort ist relativ einfach zu geben. Die Bundeswehr muss dort so lange bleiben, bis von Afghanistan keine Gefahr mehr für unsere Sicherheit ausgeht, bis Afghanistan selbst für seine eigene Sicherheit sorgen kann. Denn der Satz: „Ohne Frieden in Afghanistan gibt es keine Sicherheit für uns“, ist richtig.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Zum Aufbau der eigenen Sicherheitsstrukturen braucht Afghanistan Hilfe: zum Aufbau einer loyalen Armee, der Polizei, eines funktionierenden Justizwesens und einer funktionierenden Rechtsordnung. Dabei sind sicherlich noch stärkere Anstrengungen als bisher nötig. Insbesondere bei der Polizeiausbildung, bei der wir ursprünglich als Führungsnation eine besondere Verantwortung getragen haben – bei EUPOL stellen wir nach wie vor einen starken Anteil –, müssen wir mehr tun. Denn im Bewusstsein der Afghanen tritt ihnen ihr eigener Staat in den existenziellen Vorsorgevorkehrungen gerade auch durch die Polizei gegenüber. Vor ihrer alten Polizei hatten sie oft Angst. Sie war korrupt; sie war ein Werkzeug von Warlords, von anderen. Deshalb ist es so wichtig, eine zivile Bürgerpolizei aufzubauen, auf die sich die Afghanen verlassen können. Das ist auch ein Schlüssel für die Akzeptanz der afghanischen Regierung in der afghanischen Bevölkerung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb haben wir hier eine nachlaufende Verantwortung aus unserer früheren Position als Führungsnation. Ich würde mir wünschen, dass wir hier verstärkt darüber sprechen – trotz unserer föderalen Probleme bei der Polizeiausbildung –, wie wir hier mehr tun können.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Es gibt eine Zwischenfrage des Kollegen Nachtwei. Ganz offenkundig möchten Sie sie zulassen. Bitte Herr Kollege Nachtwei, Sie haben das Wort.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Kollege Polenz, Sie haben völlig zu Recht die Bedeutung des Polizeiaufbaus für eine nachhaltige Sicherheitsstruktur in Afghanistan angesprochen und woran es da bisher so eklatant fehlt. Wir waren gemeinsam auf der NATO-Parlamentarier-Versammlung in Reykjavík, bei der glücklicherweise auch acht Länderinnenminister dabei waren. Ist Ihnen bei den Landesinnenministern, die zum Polizeiaufbau in Afghanistan durch Polizisten auch etwas beitragen, irgendein sonderliches Interesse an der Afghanistanfrage aufgefallen,
(Zuruf von der CDU/CSU: Ja! - Lachen bei der CDU/CSU)
unter anderem des nordrhein-westfälischen Innenministers Wolf von der FDP?
(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Der ist der Beste - mit Abstand!)
Ruprecht Polenz (CDU/CSU):
Ich gehe davon aus, Herr Kollege Nachtwei, dass die Innenminister von Bund und Ländern auf der einen Seite das Problem haben, dass im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung die Präsenz der Polizei etwa auf der Straße, an sozialen Brennpunkten stärker sein könnte, als sie es ist. Von daher haben sie den Eindruck, sie hätten schon in Deutschland an allen Ecken und Enden mit dem Polizeieinsatz zu knapsen. Andererseits wissen sie im Sinne einer Sicherheitsvorsorge und Prävention, dass die Hilfe für Afghanistan auch Vorkehrungen erleichtert, die sie sonst im Hinblick auf Terroranschläge, Prävention von solchen Attentaten, hier leisten müssten. Von daher kann man wohl die Innenminister davon überzeugen oder sie sind davon überzeugt, dass ein Einsatz deutscher Polizeikräfte zu Ausbildungszwecken in Afghanistan der Sicherheit hier in Berlin auf dem Prenzlauer Berg oder in München oder in Münster, wo wir beide herkommen, in gleicher Weise dient.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir müssen natürlich darüber nachdenken, was wir machen können, um Polizeikräfte schneller verfügbar zu haben, damit wir die Lücke, die zwischen Militäreinsatz und ziviler Verwaltung beim Aufbau von sogenannten Failed States entsteht, rascher und schneller schließen können.
Lassen Sie mich etwas zur Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit sagen. Wir sind im Auftrag der Vereinten Nationen in Afghanistan. Diejenigen, die heute sagen, wir können der Verlängerung des Bundeswehrmandates nicht zustimmen, oder die sich der Stimme enthalten, geben im Grunde den Vereinten Nationen diesen Auftrag zurück. Wir sind auf Bitten der afghanischen Regierung im Land. Wer sich heute der Stimme enthält oder dagegen stimmt, der sagt: Ihr habt uns vergebens gebeten, seht zu, wir Ihr klarkommt! Wir sind im Bündnis mit der NATO in Afghanistan. Wer sich heute der Stimme enthält oder dagegen stimmt, der sagt: Es ist uns egal, wie ihr dort weitermacht. Wir verabschieden uns jetzt.
Machen Sie es sich mit den Signalen nicht so einfach! Das sage ich an die Adresse der Grünen. Sie können vielleicht noch der deutschen Öffentlichkeit das komplizierte Verfahren erklären, wie Ihre Abstimmungen hier stattfinden. In der Weltöffentlichkeit und in Afghanistan wirkt eine mehrheitliche Enthaltung Ihrer Fraktion wie der Einstieg zum Ausstieg. Daran führt überhaupt kein Weg vorbei. Ich glaube, dass diese Verantwortung auf manchen von Ihnen schwer lastet. Vielleicht führt dies ja noch dazu, dass der eine oder andere sagt: Das Signal, das von dieser Bundestagsabstimmung in Kabul ankommt, ist wichtiger als das, was bei meiner eigenen Parteibasis vor Ort ankommt. Das ist die Frage, vor der Sie stehen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Wir stehen zu Afghanistan und unserer Rolle, dabei mitzuhelfen, das Land zu befrieden und aufzubauen. Wir brauchen nach 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg einen politischen Versöhnungsprozess. Grundlage dafür muss die demokratisch verabschiedete neue afghanische Verfassung sein.
Priorität hat der zivile Wiederaufbau. Die Erhöhung der Mittel auf 125 Millionen Euro ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung, aber es müssen weitere folgen. Es geht um Good Governance und um Arbeitsplätze in Afghanistan. Die militärische Bekämpfung der Aufständischen muss gemeinsam mit unseren Bündnispartnern fortgesetzt werden. Die Bundeswehr muss und wird so lange bleiben, bis afghanische Sicherheitskräfte selbst für die Sicherheit der Afghanen sorgen und gewährleisten können, dass von afghanischem Territorium keine Gefahren mehr für uns und die internationale Gemeinschaft ausgehen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)