Ruprecht Polenz

Polenz hält Laudatio zur Verleihung der Hermann-Maas-Medaille an die israelische Menschenrechtsorganisation Machsom Watch


Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, hat anlässlich der diesjährigen Verleihung der Hermann-Maas-Medaille an die israelische Menschnerechtsorganisation Machsom Watch in Gengenbach die Laudatio auf den Preisträger gehalten.

Machsom Watch ist eine Organisation ehrenamtlicher israelischer Frauen, die das Geschehen an den militärischenCheckpoints in den Palästinensischen Gebieten und an der Grenze zu Israel beobachtet und sich für die Einhaltung der Menschenrechte gegenüber den Palästinensern stark macht. In seiner Rede lobte Polenz die Zivilcourage, mit der sich die Frauen unermüdlich für Gerechtigkeit und ein friedliches Miteinander von Israelis und Palästinensern einsetzen, und dankte ihnen für ihre unverzichtbare Arbeit.

Nähere Informationen zur Arbeit von Machsom Watch, die auch bereits mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde, finden Sie unter www.machsomwatch.org.

Den vollständigen Redetext finden Sie hier.

Pfarrer Jan Mathis, Ruprecht Polenz, Ronny Perlman (Machsom Watch) und Prälat Dr. Hans Pfisterer  (von links)Pfarrer Jan Mathis, Ruprecht Polenz, Ronny Perlman (Machsom Watch) und Prälat Dr. Hans Pfisterer (von links)

Sehr geehrte Damen und Herren,

verehrte Vertreter aus Kirche und Politik,

liebe Angehörige von Hermann Maas,

liebe Frau Perlman,

ich freue mich sehr, dass Sie heute anlässlich der Verleihung der Hermann-Maas-Medaille an die israelische Organisation Machsom Watch so zahlreich erschienen sind. Es ist mir eine besondere persönliche Ehre und Freude diese Laudatio halten zu dürfen – aus Anerkennung und Wertschätzung der Arbeit von Hermann Maas und von Machsom Watch, aber auch, weil mich mit Israel und der Region des Nahen Ostens seit Jahrzehnten eine besondere Beziehung verbindet.

Entstehung und Arbeit von Machsom Watch

Die Organisation Machsom Watch ist vor ziemlich genau neun Jahren, einige Monate nach dem Beginn der zweiten Intifada, entstanden. Beunruhigt durch sich häufende Berichte über gewalttätiges Vorgehen israelischer Militärs gegenüber palästinensischen Bürgern an den so genannten Checkpoints, beschloss eine Handvoll israelischer Frauen aktiv zu werden.

An einem eisigen Februarmorgen 2001 nähern sich drei von ihnen dem Checkpoint 300 zwischen Bethlehem und Jerusalem. Nervös und unsicher, wie sie später selbst gestehen, gehen sie dem israelischen Soldaten mit seiner M16 in der Hand entgegen. Auf seine Frage, was sie dort machen würden, kurze Verwirrung und Schweigen. Um die Situation zu retten antwortet schließlich eine von ihnen, sie seien gekommen, um den Sonnenaufgang zu beobachten! Der Soldat willigt grummelnd ein und sie blieben – und beobachten so den Tag über das erste Mal in ihrem Leben das Geschehen an einem Checkpoint. Das, was sie sehen, verwirrt sie, wühlt sie auf, nimmt sie gefangen. Am Ende des Tages ahnen sie, dass dies ihre neue Mission sein wird.

Dass sich aus diesem „Machsom Watch“ – der Checkpoint-Beobachtung, wie es auf Deutsch heißt – in Kürze jedoch eine Organisation mit internationaler Anerkennung entwickeln würde, das wagte wohl keine von Ihnen damals auch nur zu träumen.

Bestanden zu Beginn ihres Engagements noch Zweifel und Unsicherheit darüber, wie genau ihre Arbeit aussehen sollte, so ist Machsom Watch inzwischen zu einer Organisation angewachsen, in der mehr als fünfhundert israelische Frauen ehrenamtlich aktiv sind. Viele von ihnen blicken bereits auf ein langes Berufsleben zurück und haben erwachsene Kinder, die selbst gerade ihren Militärdienst ableisten oder schon geleistet haben.

In Gruppen von drei bis vier Frauen stehen sie als Beobachterinnen an den Kontrollposten der israelischen Armee im Westjordanland und an der Grenze zu Israel. Sie wollen mit ihrer Arbeit Menschen beistehen – den Palästinensern, die die Checkpoints passieren wollen, aber auch den oftmals sehr jungen Soldaten, die teilweise mit ihrer Aufgabe überfordert sind. Die Frauen haben sich das Ziel gesetzt, über ihre Präsenz zur Wahrung der Bürger- und Menschenrechte gegenüber den Palästinensern beizutragen. Ihre Arbeit besteht im Wesentlichen darin, das Geschehen an den Checkpoints zu beobachten, zu protokollieren und Berichte darüber zu schreiben, die schließlich auf ihrer Homepage veröffentlicht werden.

Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen, verehrte Gäste, schon einmal die Gelegenheit hatten, Israel und die Palästinensischen Gebiete zu bereisen. Wenn man es noch nicht persönlich erlebt hat, ist es schwierig, sich vorzustellen, worum es bei diesen Checkpoints genau geht, deshalb möchte ich das System noch einmal kurz erklären.

Das System der Checkpoints und die Folgen

Der Staat Israel wurde im Jahr 1948 gegründet. In Folge des Sechstagekriegs zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn Ägypten, Jordanien und Syrien im Juni 1967 besetzte Israel u.a. das Westjordanland und Ostjerusalem. Diese Gebiete stehen seitdem in verschiedenen Abstufungen unter israelischer Militärherrschaft.

Zu Beginn der Besatzung wurde ausdrücklich allen Palästinensern eine Generalerlaubnis erteilt, nach Israel zu reisen, Ausnahmen galten nur in sicherheitsrelevanten Einzelfällen. Diese Bewegungsfreiheit sollte dazu dienen, die Wirtschaft in den besetzen Gebieten mit der Israels zu verflechten.

Seit Anfang der neunziger Jahre hat sich dieses Verhältnis jedoch umgekehrt. Nach Ausbruch des 1. Golfkrieges und einer kompletten Schließung der Gebiete benötigt nun jeder Palästinenser eine persönliche Genehmigung zur Einreise nach Israel. Das Netz von Kontrollstationen wurde stetig ausgebaut. Auch für die Reise vom Westjordanland in den Gazastreifen oder nach Ostjerusalem, oder vom Norden in den Süden des Westjordanlandes wurden fortan Genehmigungen nötig. Mit dem Ausbruch der zweiten Intifada 2001 wurde dieses System der Absperrungen und Kontrollposten noch einmal deutlich verstärkt. Israel möchte sich durch diese Maßnahmen vor terroristischen Angriffen schützen. Schulen, Menschenansammlungen an Bushaltestellen, Diskotheken oder Familienfeiern waren und sind, wie wir immer wieder erfahren mussten, Ziele von Bomben- oder Selbstmordanschlägen geworden.

Das Westjordanland ist nur etwas mehr als halb so groß wie ihr Regierungsbezirk Freiburg. Zusätzlich zu den 39 Checkpoints an den Übergängen zu Israel gibt es innerhalb dieses Gebietes 60 permanente Kontrollposten der Armee und noch einmal genauso viele bewegliche Checkpoints. Hinzu kommen rund ca. 500 unbemannte Straßenbarrikaden in Form von Zäunen und Gittern und 700km an Straßen, die von Palästinensern nicht genutzt werden dürfen. [1]

Ich weiß nicht, wie viel Sie privat oder geschäftlich in Ihrem Regierungsbezirk unterwegs sind, aber wenn man sich nur diese Zahlen vor Augen hält, kann man in Ansätzen erahnen, was diese Barrikaden für das Leben der Palästinenser bedeuten. Sie schränken die Bewegungsfreiheit enorm ein und haben einen lähmenden Effekt auf das Privat- und Berufsleben jedes Einzelnen. Neben der medizinischen Versorgung leidet auch die Wirtschaft unter diesen Einschränkungen. Handel zwischen verschiedenen Gebieten im Westjordanland wurde dadurch zum Beispiel deutlich teurer, unsicherer und ineffizienter, sowohl was die Beschaffung von Rohmaterialien als auch den Absatz der Endprodukte angeht.

Weit tiefgehender noch als das ist jedoch meines Erachtens die psychologische Dimension. Die ständige Unsicherheit aufgrund unvorhersehbarer Schließung und Öffnung der Checkpoints macht das eigene Leben für die Menschen in den Palästinensischen Gebieten unkalkulierbar – für einen Landwirt oder Kaufmann genauso wie für den Professor oder Politiker. Die Sorge, ob die Behörden eine erforderliche Genehmigung erteilen und die Angst, trotz bestehender Genehmigung am Checkpoint abgewiesen zu werden vermitteln das Gefühl, und das ist glaube ich das Entscheidende, von der Willkür eines anderen abhängig zu sein. Sein Leben nicht mehr selbstbestimmt leben zu können, sondern auf das Wohlwollen eines anderen angewiesen zu sein. Ich glaube diese Erfahrung, die Gefühle wie Wut, Hilflosigkeit, Resignation hervorruft, prägt, ja verändert Menschen nachhaltig. Bei manchen, die tagtäglich den Prozeduren an den Checkpoints ausgesetzt sind, mag dies Hass erzeugen gegenüber Israel – und den Wunsch nach Rache und Vergeltung.

Alltag und Selbstverständnis der Frauen von Machsom Watch

Und genau hier setzt die Arbeit der Frauen von Machsom Watch an. Durch ihre Präsenz an den Checkpoints und ihr Wachen über die Einhaltung der Rechte der Palästinenser versuchen sie ein gewisses Maß an Verlässlichkeit für jeden Einzelnen zu gewährleisten. Dies ist aufgrund der Übermacht der israelischen Militärverwaltung oft nur rudimentär möglich. Dennoch sind die Frauen durch dieses Bemühen schon zu einer Instanz geworden, die von vielen vermisst wird, sobald sie einige Tage nicht an den gewohnten Checkpoints erscheint.

Ihre Arbeit geht dabei inzwischen über die eines passiven Beobachters hinaus. Sehr oft werden sie angesprochen von Palästinensern, die mit ihrem Latein am Ende sind: Von chronisch Kranken, denen seit Monaten die Reise zum Arzt nach Bethlehem verwehrt wird, von solchen, die keine Genehmigung für den Weg von ihrem Wohnort zur Arbeitsstätte bekommen oder denjenigen, die einfach nur ihre Familie in einem anderen Teil der Palästinensischen Gebiete besuchen wollen.

Dabei ist es ganz natürlich, dass in einer Organisation mit mehreren hundert Mitgliedern das Selbstverständnis von der eigenen Rolle sehr wohl differiert. Während einige Frauen ihre Rolle stärker als Beobachter verstehen und nur eingreifen, wenn jemandem trotz gültiger Papiere der Durchlass verwehrt wird, versuchen andere auch in den eben genannten Fällen, in denen sie angesprochen werden, zu helfen. Sie begleiten dann zu Behörden, versuchen Gründe für Ablehnungen zu erfahren und machen sich bei den zuständigen Stellen für eine sachgerechte Prüfung stark. Oftmals müssen sie sich mit dem Hinweis begnügen, die Entscheidung erfolge aus „Sicherheitsgründen“ oder wegen „Terrorgefahr“.

Das Verhältnis der Soldaten zu den Beobachterinnen schwankt zumeist zwischen Gleichgültigkeit und obstruktiver Ablehnung. Schikanen sind dabei ähnlich selten wie Worte des Willkommens. Insgesamt hat das Militär Machsom Watch jedoch als einen Akteur vor Ort anerkennen müssen, nicht zuletzt aufgrund der medialen Aufmerksamkeit, die ihre Arbeit nach sich zieht.

Aufgrund der Vielzahl der Fälle, mit denen sie täglich konfrontiert werden, haben die Machsom Watch-Frauen aber auch immer wieder das Gefühl, nur wenig ausrichten zu können. So schildert eine der Ehrenamtlichen in ihrem Bericht, dass sie „nur“ einigen Rentnern die Wartezeit um ein paar Stunden habe verkürzen können und der Aufwand eines anderen Tages „nur“ zu einer Genehmigung für einen Monat geführt habe. Doch die Palästinenser sind unglaublich dankbar für diesen Einsatz und die kleinen Erfolge – eben weil für sie die Genehmigung, einen Monat lang zu ihrer Arbeitsstelle fahren zu können, doch von großer Bedeutung ist.

Die Hintergründe der Frauen, die neben ihrem Beruf bei Machsom Watch aktiv sind, sind vielfältig. Einige kommen aus der Frauenbewegung, andere aus Friedens- und Protestbewegungen. Doch was sie alle eint ist der Wunsch nach Gerechtigkeit. Und zwar Gerechtigkeit verstanden als innere Einstellung. Gerechtigkeit verstanden als Pflicht gegenüber sich selbst und als Verantwortung gegenüber denen, denen Unrecht geschieht. Das Streben nach Gerechtigkeit einhergehend mit der Aufforderung an sich selbst, zu Handeln, selbst aktiv zu werden um ungerechte Verhältnisse zu beenden.

Hermann Maas und Machsom Watch

Diesen inneren Antrieb, nicht zuzuschauen oder wegzusehen, sondern seinen eigenen Beitrag im Widerstand gegen Unrecht zu leisten, teilen die Frauen von Machsom Watch mit Hermann Maas. Genauso wie jede einzelne der Frauen bei Machsom Watch Zivilcourage zeigt und sich mit persönlichem Einsatz gegen Ungerechtigkeit zur Wehr setzt, hat dies auch Hermann Maas Zeit seines Lebens getan.

Als Pfarrer an der Heiliggeist-Kirche in Heidelberg wurde er zwischen 1933 und 1944 zum Helfer und Retter für zahllose verfolgte Juden im nationalsozialistischen Deutschland. Unter hohem persönlichem Einsatz organisierte er für viele Juden und Christen jüdischer Herkunft, darunter mehrere hundert Kinder, die Flucht aus Deutschland. Doch er arbeitete nicht nur mit viel Geschick im Verborgenen, um möglichst viele zu retten, sondern erhob auch öffentlich seine Stimme und erklärte sich solidarisch mit den jüdischen Mitbürgern. Für seinen Einsatz musste er auch persönlich viele Einschränkungen hinnehmen. So wurde er wegen seines Eintretens für die verfolgten Juden im Dritten Reich in seiner Arbeit als Pfarrer auf vielfältige Weise behindert und zum Beispiel mit Rede- und Schreibverboten belegt. 1943 wurde er auf Druck des Regimes sogar zwangsweise vom Evangelischen Oberkirchenrat in den Ruhestand versetzt und 1944 nach Frankreich zur Zwangsarbeit deportiert.

Die Umstände, unter denen die Frauen von Machsom Watch arbeiten, sind natürlich nicht mit denen von Hermann Maas vergleichbar. Ihre Arbeit ist rau, strapaziös und frustrierend, sie bewegen sich in einem brutalen Umfeld, in dem Schusswaffengebrauch zur Routine gehört. Aber sie müssen nicht darum fürchten, den Einsatz für Andere mit dem eigenen Leben zu bezahlen, wie Maas es musste. Im Gegensatz zu Hermann Maas, der selbst der Willkür in einem diktatorischen System ausgesetzt war, können sie sich auf ihre eigenen Rechte verlassen. Auf das Recht ihr Meinung zu äußern, auch wenn sie der Mehrheit im Land missfällt, auf das Recht zu demonstrieren und auf das Recht an den Checkpoints zugegen zu sein. All das zeugt auch von der Reife Israels als Demokratie. Seite an Seite mit anderen international anerkannten Organisationen wie B’tselem, Ir Amim oder Peace Now, die ebenfalls harsche Kritiker der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern sind, genießen sie die Sicherheit, sich auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit bewegen zu können.

Den Einfluss, den sie mit ihrer Arbeit direkt bei den Militärs am Checkpoint erreicht haben, verdanken die Frauen von machsom Watch vor allem zweierlei: Erstens der Tatsache, dass sie Israelinnen sind, aus der Mitte der Gesellschaft kommend, oft aus angesehenen Familien. So war z.B. die Tochter des ehemaligen Ministerpräsidenten Ehud Olmert, Dana Olmert, für Machsom Watch aktiv. Der zweite Punkt ist darüber hinaus das Alter der Aktivistinnen. Die jungen Soldaten könnten oftmals ihre Kinder oder Enkelkinder sein, was ihnen in den Medien häufig den Titel „Mütter“ bzw.  „Großmütter der Checkpoints“ einbrachte. Dadurch erhält ihr Einsatz für Menschenrechte im persönlichen Gegenüber noch ein höheres moralisches Gewicht.

International hat Machsom Watch mit seiner Arbeit sehr schnell nach der Gründung 2001 ein großes und anerkennendes Medienecho erfahren. Auch in Israel selbst haben sie das Interesse der Medien geweckt. Hier gab es durchaus einige wohlwollende Artikel, die der Organisation immer auch einen Zulauf an Mitgliedern bescherten. Viele Berichte sind jedoch von sehr kritischem bis deutlich negativem Tenor. „Verrat am Zionismus“, das „Verkennen der israelischen Sicherheitsinteressen“ oder „Landesverräterinnen“ sind nur einige der immer wieder vorgebrachten Vorwürfe. Aber auch Todesdrohungen haben Machsom Watch-Mitglieder nach Fernsehinterviews bereits erhalten.

Dafür, liebe Frau Perlman, dass sie und ihre Mitstreiterinnen sich trotz dieser Anfeindungen weiter unermüdlich für die Achtung der Menschenrechte und ein friedliches Miteinander von Israelis und Palästinensern einsetzen, möchte ich Ihnen, ich denke im Namen aller Anwesenden, ganz herzlich danken.

27. 1. - Tag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Es ist sicher kein Zufall, dass die Wahl für den Tag der Preisverleihung im Gedenken an Leben und Werk von Hermann Maas auf den 27. Januar gefallen ist – dem Tag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.

Genau heute vor 65 Jahren befreiten sowjetische Truppen das Konzentrationslager Auschwitz. Den Soldaten bot sich dort ein Bild des Schreckens: Sie trafen auf Überlebende, die nur noch aus Haut und Knochen bestanden, sie hörten von Gräueln, die jegliche Vorstellungskraft überstiegen. Mehr als eine Million Menschen wurde in Auschwitz ermordet: Sie mussten arbeiten, bis sie zusammenbrachen; sie wurden zu Tode gequält. Sie fielen medizinischen Experimenten zum Opfer oder sie wurden direkt nach ihrer Ankunft in den Gaskammern erstickt.

Der Name dieses Lagers wurde zum Inbegriff für den nationalsozialistischen Massenmord und seine entmenschlichte Vernichtungsmaschinerie, er wurde zu einem Synonym für den Holocaust. Auschwitz führt uns an die Grenze dessen, was man verstehen und ertragen kann.

Aus diesem Grund begehen wir den Gedenktag für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Deutschland hat diesen Gedenktag 1995 eingeführt und 2005 erklärten dann die Vereinten Nationen den 27. Januar zum internationalen Holocaust-Gedenktag. Heute Vormittag hat, wie in jedem Jahr, im Bundestag eine Gedenkstunde in Erinnerung der Opfer stattgefunden, in der auch der israelische Staatspräsident Shimon Peres gesprochen hat.

Den nationalsozialistischen Verbrechen fielen vor allem Jüdinnen und Juden zum Opfer, jüdische Deutsche und Juden aus ganz Europa. Drangsaliert und umgebracht wurden aber auch Sinti und Roma, Behinderte und politische Gegner, Zeugen Jehovas und Homosexuelle, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Ihnen allen ist der heutige Gedenktag gewidmet. Unzählige Menschen wurden entrechtet und entwürdigt, ihrer Existenzgrundlagen beraubt, ins Exil getrieben, gefoltert und ermordet. Diese große Zahl bestürzt und erschreckt. Doch welches Unrecht, welches Leid Menschen damals zugefügt wurde, das wird oftmals erst deutlich, wenn man sich den Einzelschicksalen nähert, die hinter den Millionen Opfern stehen.

Hermann Maas hat in seinem unglaublichen persönlichen Engagement für die Verfolgten viele dieser Einzelschicksale getroffen und in hohem Alter seine Gefühle wie folgt beschrieben:

„Ich vergesse nie die furchtbaren Erlebnisse jener Jahre, die Besuche der vielen Verfolgten und Gequälten, die seelische und körperliche Not der durch die Nürnberger Gesetze Gejagten, dieses Tag und Nacht Geängstigt- und Bedrohtsein der vielen, das ich miterlebt habe, als wäre es mein eigen Geschick. Mit vollem Bewusstsein habe ich damals dieses eigene Leben und Geschick verflochten in das grausige Geschick des jüdischen Volkes...“

Genauso wie Hermann Maas sein Leben verknüpft hat mit dem jüdischen Volk, so verbindet auch Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine besondere Beziehung mit Israel, die in hohem Maße auch geprägt ist von Verantwortung. Deshalb sind alle deutschen Regierungen, von Adenauer über Kohl und Schröder bis hin zu Angela Merkel, immer in besonderer Weise für das Existenzrecht Israels als jüdischem und demokratischem Staat sowie für die Sicherheit seiner Bürger eingetreten. Das ist zu Recht unverrückbarer Teil der deutschen Staatsräson.

Frieden schließt man mit Feinden

Meine persönliche Verbundenheit mit dem Staat Israel geht bin in meine Schulzeit zurück. Die allererste politische Tagung, an der ich in meinem Leben teilgenommen habe, besuchte ich als Elftklässler, und sie hatte die Staatsgründung Israels zum Thema. Das Schicksal des jüdischen Volkes und die damit verbundenen politischen Folgen haben mich seither nicht mehr losgelassen und begleiteten mich nicht nur durch mein politisches Leben. Seit über dreißig Jahren bereise ich Israel immer wieder, habe Kibbuzim besucht, viele Gespräche geführt und Freunde gewonnen. Zuletzt war ich im vergangenen Juni dort und werde auch in vier Tagen wieder für eine Woche dorthin aufbrechen.

Als Freund Israels, dem es sehr am langfristigen Wohl des Staates und seiner Bürger gelegen ist, bemühe ich mich auch in meiner politischen Funktion immer wieder um eine friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Denn nur wenn eine dauerhafte politische Lösung gefunden wird, die beiden Seiten gleiche politische Rechte und Pflichten zugesteht, werden Israelis und Palästinenser in Frieden und Sicherheit neben- und miteinander leben können und sich auch auf der bedeutsamen emotionalen Ebene einander annähern können.

Frieden schließt man mit nicht mit Freunden, sondern mit Feinden. Mit diesem so einfach klingenden Ausspruch deutet Yitzhak Rabin zugleich die ganze Komplexität an, die ein Friedensschluss erfordert.

Yehudit Keshet, eine der Gründerinnen von Machsom Watch, hat in ihrem 2009 auch in Deutschland erschienenen Buch „Checkpoint Watch“ sehr gut die Essenz dessen herausgestellt, was es auf persönlicher Ebene heißt, die Versöhnung mit seinem Feind zu suchen. Bezogen auf ihre eigene Vergangenheit als Kind von Holocaustüberlebenden, gleichermaßen aber mit Blick auf das Verhältnis von Israelis und Palästinensern sagt sie, Versöhnung sei der „schwierige Versuch, das menschliche Gesicht des Feindes zu sehen“.

Frieden mit Feinden schließen heißt also immer wieder aufeinander zuzugehen, heißt Vorurteile zu überwinden, heißt Klüfte zwischen Menschen zu überbrücken.

Der Pfarrer Hermann Maas war in doppelter Hinsicht ein solcher Brückenbauer. Zum einen setzte er sich sein ganzes Leben für eine Annäherung von Juden und Christen ein. Zum andern war er aber auch ein Brückenbauer zwischen Deutschland und dem Staat Israel nach dem Ende des Nationalsozialismus, jemand der sich unermüdlich für die Versöhnung nach diesen schrecklichen Geschehnissen eingesetzt hat. Schließlich war er dann auch 1950 der erste Deutsche, der nach dem Krieg vom Staat Israel eingeladen wurde. Beide Staaten würdigten seinen Einsatz.

In Deutschland wurde er 1954 für seine Verdienste mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. In Israel bekam er 1967 von der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem die Medaille der „36 Gerechten“ verliehen: Seitdem erinnert der erste Baum in der "Allee der Gerechten" an das mutige Eintreten des badischen Pfarrers für die Menschlichkeit.

Auch wenn für Maas das Lebensrecht des Staates Israel außer jedem Zweifel war, hatte für ihn das „todernste Problem“ des „Friedens mit den Arabern“, wie er es nannte, einen hohen Stellenwert. Die Probleme waren für ihn nur friedlich zu lösen. Maas nahm die Anschläge auf beiden Seiten wahr. Besorgt schrieb er den Satz: "Jede Gewalttat herüber und hinüber kann Sturm sein, der die glimmenden Funken zu Flammen werden lässt, die einen Weltbrand bedeuten können".

Wenn ich einen Blick in die Zukunft frei hätte, so würde ich mir nichts mehr wünschen als einen Friedensschluss zwischen Israelis und Palästinensern zu sehen. Und die Frauen von Machsom Watch als Agenten der Versöhnung und Verständigung zwischen den zwei Völkern und Religionen, ganz im ökumenischen Geiste von Hermann Maas.

Die politische Situation und die Forderung einer Zweistaatenlösung

Die derzeitige politische Lage erfüllt mich jedoch, das will ich nicht verhehlen, mit großer Sorge. Bisher wurde in dem seit Jahrzehnten andauernden Konflikt oft darüber geklagt, dass wieder und wieder Verhandlungsrunden scheiterten, wie z.B. in Camp David, oder Prozesse im Sande verliefen, wie z.B. Annapolis. Doch derzeit gibt es nicht einmal Gespräche oder Verhandlungen. Das ist, abgesehen von Krieg, die schlechteste aller vorstellbaren Situationen. Denn nicht miteinander zu sprechen bedeutet im besten Falle nur Stillstand – das gilt nicht nur zwischen Individuen, sondern auch für Staaten und Völker.

Die Wahl des US-Präsidenten Barack Obama hatte auch im Nahen Osten große Hoffnungen auf ein baldiges Ende des Konfliktes geweckt. Doch im Laufe des vergangenen Jahres sind diese Hoffnungen einer gewissen Ernüchterung gewichen und der Erkenntnis, dass ein neuer Mann in der Arena nicht ausreicht, um die Determinanten eine schon Jahrzehnte andauernden Konfliktes zu überwinden. Nur wenn alle beteiligten Parteien nachhaltig gewillt sind, zu einer Friedenlösung zu kommen und bemüht sind in neuen Anläufen aufeinander zuzugehen, ist ein Ende des Konfliktes möglich.

Ich bin überzeugt davon, dass eine dauerhafte Lösung des Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern nur in einer Zweistaatenlösung gefunden werden kann. Nur wenn beide Völker in ihrem eigenen unabhängigen Staat in gegenseitiger Anerkennung der Grenzen in Freiheit leben können, wird Frieden und eine anschließende Versöhnung möglich sein. Denn nur, wenn Israelis wie auch Palästinenser in festgesetzten und gesicherten Grenzen leben können, wird mit der Unsicherheit einer der Gründe wegfallen, der auf beiden Seiten immer wieder Auslöser für Gewalt und eine primär von Sicherheitsbedenken geprägte Politik war.

Eine solche Zweistaatenlösung sollte auf den Kernpunkten der Clinton-Parameter (2000), der Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern in Taba/Ägypten (2001) und dem inoffiziellen Verhandlungsergebnis der „Genfer Initiative“ (2003) basieren.

Danach liegt der Staat Israel im Wesentlichen in den Grenzen von 1967, das palästinensische Staatsgebiet umfasst das Westjordanland und den Gazastreifen. Jerusalem soll, entsprechend dem Ost- und Westteil die Hauptstadt beider Staaten sein, wobei für die religiösen Stätten eine Sonderregelung gefunden werden muss.

Einer der Hauptgründe, der einem Frieden zwischen beiden Parteien entgegensteht und uns immer weiter von einer Zweistaatenlösung entfernt ist die israelische Siedlungstätigkeit im Westjordanland und in Ostjerusalem. Deshalb teile ich die Forderung des Nahostquartetts, bestehend aus UN, EU, USA und Russland, nach einer sofortigen und unbedingten Einstellung des Siedlungsbaus.

Daran, dass Israel diese Siedlungen räumt, führt kein Weg vorbei. Dort, wo in Grenznähe und in der Umgebung Jerusalems jüdische Siedlungen erhalten bleiben sollen, muss der palästinensische Staat an anderer Stelle einen angemessenen und von beiden Seiten akzeptierten flächenmäßigen Ausgleich erhalten.

Die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge schließlich muss in den palästinensischen Staat erfolgen und nur in Ausnahmen und mit dessen Einverständnis in den Staat Israel.

Ausgehend von der Initiative des damaligen saudischen Kronprinzen Abdullah im Februar 2002 haben auch die Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga auf ihrem Gipfel im März 2002 im Prinzip die Zweistaatenlösung anerkannt. Das ist eine entscheidende Grundlage für eine regional integrierte und anerkannte Verhandlungslösung, die die Sicherheit Israels garantiert.

Die Entwicklungen der vergangenen Jahre zeigen, dass die beteiligten Parteien nicht aus eigener Kraft in der Lage sind, den Konflikt zu befrieden. Deshalb sind wir als Internationale Gemeinschaft umso mehr in der Pflicht und Verantwortung, Momente des politischen Stillstands, wie er zurzeit besteht, zu überwinden und aller Ernüchterung zum Trotz immer neue Anläufe zu einer Lösung des Konfliktes zu unternehmen.

Schlussteil

Die Frauen von Machsom Watch gehen ihrer Arbeit seit nunmehr neun Jahren unabhängig von der aktuellen politischen Großwetterlage nach. Als friedliche Kraft, als zivile Kraft, aus der Mitte der Gesellschaft heraus, im Einsatz für Gerechtigkeit und Menschenrechte. Und ich möchte hier, auch in meiner Funktion als Politiker, noch einmal darauf hinweisen wie unabdingbar, unverzichtbar diese Arbeit ist.

Wir haben in Deutschland vor wenigen Wochen den 20. Jahrestag des Mauerfalls gefeiert. Das Jubiläum dieser unglaublichen Ereignisse im Herbst 1989, die den Kalten Krieg beendeten und damit die Welt veränderten, hat uns alle noch einmal daran erinnert, welche Kraft ziviler Widerstand hat. Am Ende war es vielleicht ein Zusammenspiel auf verschiedenen Ebenen, in dem auch die Politik eine entscheidende Rolle spielte. Letztlich aber war es die Kraft der Menschen in ihrem unermüdlichem zivilen Protest für Freiheit und Gerechtigkeit, der zu diesem vorher nicht für möglich gehaltenen friedlichen Ende des Ost-West-Konfliktes führte.

Mein herzlicher Dank gilt an dieser Stelle der Jury für Ihre Wahl des diesjährigen Preisträgers, die mit Machsom Watch auf eine Organisation gefallen ist, die sich in gleicher Weise für den Frieden und die Verständigung zwischen den Völkern einsetzt wie auch Hermann Maas es seinerzeit getan hat.

Ihnen Frau Perlman, meinen allerherzlichsten Glückwunsch zur Auszeichnung ihrer Organisation mit der Hermann-Maas-Medaille. Für ihre Zivilcourage und ihren unermüdlichen Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Menschlichkeit gilt Ihnen und jeder einzelnen ihrer Mitstreiterinnen bei Machsom Watch mein ganz persönlicher Dank.

Ich selbst werde am Sonntag erneut zu politischen Gesprächen nach Israel und in die Palästinensischen Gebiete reisen und freue mich darauf, dort ihre Kolleginnen zu treffen und mir auch ganz persönlich ein Bild von ihrer Arbeit zu machen.

Ich möchte an dieser Stelle einfach mit dem Appell an sie, an mich und an uns alle schließen: Geben wir nicht auf in dem Bemühen um eine friedliche Lösung des Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern. Denn sie ist alternativlos.

Um es mit Gandhi zu sagen:

"Es gibt keinen Weg zum Frieden, denn Frieden ist der Weg".

Vielen Dank.

 

 



[1] Zahlen nach B’tselem, www.btselem.org.