Ruprecht Polenz

Tunesien - Jetzt Grundlage für eine stabile Demokratie schaffen

Ruprecht Polenz spricht im Bundestag

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Arbeit, Freiheit, Würde - das waren die zentralen Forderungen, für die die Tunesierinnen und Tunesier mutig auf die Straße gegangen sind. Ihre Forderung war: Ende der Korruption und der Unterdrückung.

Sie haben für Meinungsfreiheit gestritten, und sie wollten freie und faire Wahlen. Die Tunesier wollen selbst entscheiden, wer regieren soll.

Wir haben diese Debatte heute deshalb vereinbart, weil wir das Signal senden wollen: Ja, wir unterstützen diese Forderung nach einem Rechtsstaat und einer Demokratie, nach einer Gesellschaft, in der jeder und jede in Würde leben kann und die Armut und Arbeitslosigkeit überwindet.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir wollen ein Signal dafür senden, dass wir Respekt haben und dass wir die mutigen Tunesierinnen und Tunesier bewundern, die sich nicht haben einschüchtern lassen, als sie auf die Straße gegangen sind, und die auch erfolgreich darin waren, den autoritären Machthaber Ben Ali zu stürzen.

Wir sollten uns aber auch selbstkritisch noch einmal vergegenwärtigen, dass wir uns vielleicht zu lange vor eine falsche Alternative gestellt haben, weil wir der Meinung waren, in der Region des Nahen und Mittleren Ostens im Grunde nur die Alternative zwischen autoritären Regierungen und islamistischem Chaos zu haben.

Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Ich glaube, wenn man das richtig durchdenkt, dann kommt man sehr schnell zu dem Ergebnis, dass eine autoritäre Herrschaft nicht vor Islamismus
schützt, sondern im Gegenteil eher wie ein Brutkasten für Islamismus wirkt.

Warum ist das so? Autoritäre Regierungen lassen keine Meinungsfreiheit, keine politische Opposition und keine politische Diskussion in der Öffentlichkeit zu. Die Bevölkerungsmehrheit ist muslimisch, und den Glauben kann auch eine totalitäre Regierung nicht verbieten. Deshalb verlagert sich die politische Diskussion dann in die noch einigermaßen geschützten Räume der Moscheen.

Man kann das ein bisschen mit dem vergleichen, was wir in den 80er-Jahren in der DDR in den Kirchenräumen erlebt haben. Durch diese Verlagerung der Diskussion in die Moscheen wandelt sich die politische Bewegung natürlich ein Stück weit auch in Richtung religiöser Bewegung.

Es kommt noch dazu, dass autoritäre Regierungen dabei versagen, die Grundfunktionen in Sachen Bildung und soziale Sicherheit zu erfüllen, die alle vom Staat erwarten.

Wir alle wissen, dass es zum Handwerkszeug der islamistischen Bewegung gehört, Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser zu offerieren. Dies ist das zweite Element, dass autoritäre Herrschaft Islamismus begünstigt. Wenn man dann noch sieht, dass alle diese Länder im Grunde auf der Suche danach sind, welche Staats- und Regierungsform zu ihnen passt, dann verfängt natürlich so eine einfache Formel wie „Der Islam ist die Lösung“.

Wir müssen also lernen, dass diese Alternative, die uns natürlich auch von den autoritären Herrschern eingeredet worden ist – autoritär oder islamistisch - in Wirklichkeit keine ist.

Die Tunesier haben sich jetzt die Chance auf eine demokratische Entwicklung selbst erkämpft, und wir sollten sie auf diesem weiteren Weg unterstützen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir sollten unsere Hilfe allerdings auch dazu möchte ich etwas sagen an klare Bedingungen knüpfen. Es gibt jetzt eine Übergangsregierung, die im Grunde zwei Aufgaben hat: Sie muss für Sicherheit und Ordnung sorgen, und sie muss den Übergang vorbereiten, sprich: freie und faire Wahlen sowohl für das Präsidentenamt, aber, ich denke, alsbald auch für ein neues Parlament organisieren.

Das kann nach so langer Unterdrückung ohne politische Diskussion nicht innerhalb ganz kurzer Frist geschehen; denn dann hätten nur die Kräfte der alten Zeit eine Chance, organisiert anzutreten. Deshalb wird man einen Zeitraum von etwa einem halben Jahr brauchen. Länger sollte es aber auch nicht dauern.

Wir müssen von dieser Übergangsregierung einen klaren Zeitplan für diese Wahlen erwarten. Natürlich müssen dann Parteien neu gegründet und zugelassen werden. Sie brauchen ein Wahlgesetz. Dabei kann die Europäische Union und können wir technische Hilfe anbieten. Es gehört eine Amnestie für die politischen Gefangenen dazu,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Marina Schuster (FDP))

übrigens auch für diejenigen, die aus Angst vor dem Regime ins Ausland geflohen sind und jetzt gerne zurückkehren würden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt will ich etwas sagen, was vielleicht nicht jeder teilt. Ich glaube, wir sollten uns aktiv darum bemühen, dass sich auch islamistische Parteien an diesem Prozess beteiligen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Warum? Nach demokratischen Wahlen sind die Probleme ja nicht weg. Es hat ja nicht sofort jeder Jugendlichen einen Job, und es bricht nicht im ganzen Land sofort der Wohlstand aus. Dann ist es wichtig, dass der Streit über den richtigen Weg dahin in einem Parlament mit allen politischen Kräften ausgetragen wird, statt dass Kräfte außerhalb dann das ganze System diskreditieren und das, was man in der Vergangenheit zu Recht der autoritären Herrschaft angelastet hat, der neuen Demokratie anlasten.

Deshalb sollten wir aktiv dafür werben, dass auch islamistische Parteien in diesen Prozess einbezogen werden. Dafür sind allerdings klare Vorbedingungen nötig. Erstens. Jeder, der sich am politischen Prozess beteiligt, muss sich dazu bekennen, zur Durchsetzung seiner politischen Ziele ausschließlich friedliche Mittel anzuwenden.

Zweitens. Jeder, der sich daran beteiligt, nach diesen Regeln Politik zu machen, muss die Regeln auch gegen sich gelten lassen, wenn er die Mehrheit einmal verlieren sollte. Das heißt, die Bereitschaft, sich abwählen zu lassen, ist für demokratische Parteien konstitutiv.

Drittens. Das kommt in Tunesien dazu: Es gibt einen sehr fortschrittlichen Code du statut personnel, der für die Gleichberechtigung der Frauen enorm viel bewirkt hat. Wir sollten, weil sich diese Frage islamistischen Parteien gegenüber stellt, von vornherein von ihnen verlangen, dass sie ihn unangetastet lassen. Er gehört praktisch zum Verfassungskonsens der tunesischen Gesellschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Lassen Sie mich noch ein Wort zu Ägypten sagen. Dort gehen die Demonstranten auf die Straße, und zwar nicht mit der Parole „Der Islam ist die Lösung“, sondern mit der Parole „Tunesien ist die Lösung“.

(Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja!)

Wir müssen der ägyptischen Regierung sagen: Keine Gewalt gegen friedliche Demonstranten! Das Demonstrationsrecht ist ein Grundrecht, das ihr eurer Gesellschaft eröffnen müsst!

(Beifall der Abg. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Wir müssen auf Meinungsfreiheit und die freie Nutzung des Internets drängen. Es ist ein Skandal, dass Facebook und andere Möglichkeiten, miteinander zu kommunizieren, abgeschaltet worden sind. Wir müssen fordern, dass die Präsidentschaftswahlen, die in diesem Jahr turnusgemäß anstehen, fair und frei verlaufen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Europäische Union hat sich im Zuge der Entwicklung der Mittelmeerunion leider immer stärker auf eine eher technische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Region fokussiert. Im Barcelona-Prozess hat man seinerzeit noch stärker das Ziel verfolgt, wirtschaftliche Reformen mit politischer Öffnung zu verbinden. Zu dieser Politik muss auch die Europäische Union wieder zurückfinden, Herr Außenminister.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Welches Fazit ist als Zwischenergebnis zu ziehen? Erstens. Stabilität kann trügerisch sein. Autoritäre Regime garantieren keine nachhaltige Stabilität.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr gut!)

Zweitens. Die Annahme, es gäbe Völker, die für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht geeignet sind, ist überheblich und falsch.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Niema Movassat (DIE LINKE): Richtig!)

Lassen Sie mich mit einem Zitat des tunesischen Schriftstellers Abdelwahab Meddeb schließen, das ich heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen habe: Für das Verlangen nach Demokratie ist kein Volk zu unbegabt. Das tunesische muss nun in seiner demokratischen Ungeduld nur noch lernen, dass nach der Schnelle des Aufbruchs die Langwierigkeit der Übergangsphasen mit Vertretern des Regimes und neubekehrten Glaubenseiferern kommen wird. Wir werden es meistern.

Ich füge hinzu: Wir sollten dabei unsere Hilfe und Unterstützung anbieten.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)