Ruprecht Polenz

Polenz: 2/3-Mehrheit für Erdogan wäre nicht gut für die Türkei

CDU-Außenpolitiker warnt vor Machtfülle der AKP

Ruprecht Polenz in der Ortszeit des DeutschlandRadio Kultur am 11.06.2011

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Ruprecht Polenz (CDU) hat vor den Parlamentswahlen in der Türkei erklärt, dass ein Wahlsieg mit einer anschließenden Zweidrittelmehrheit der AKP weder im Interesse des Landes noch im Interesse der Partei von Ministerpräsident Erdogan sei.

Marcus Pindur:
Sein Wahlsieg gilt als sicher. Recep Tayyip Erdogan kann wohl mit seiner religiös-konservativen, andere sagen gemäßigt-islamistischen AKP-Partei fest mit einer deutlichen Mehrheit bei den morgigen Parlamentswahlen in der Türkei rechnen, unklar ist lediglich, ob er eine Zweidrittelmehrheit bekommt. Die würde es ihm ermöglichen, die Verfassung nach der Wahl nach seinem Belieben zu ändern. Das, so fürchten viele, würde zu einer weitgehend unkontrollierten Machtausübung Erdogans und seiner Partei führen und die ohnehin schon hier und dort beklagten autoritären Tendenzen seiner Herrschaft verstärken.

Wir sind jetzt verbunden mit Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. Guten Morgen, Herr Polenz!

Ruprecht Polenz: Einen schönen guten Morgen!

Pindur: Herr Polenz, Schönheit ist ja oft im Auge des Betrachters - neben den Klagen, die es in jüngster Zeit über das autoritäre Verhalten der AKP gab, hat die Partei Erdogans ja die Türkei auch unbestreitbar ein Stück vorangebracht? Was überwiegt denn in Ihren Augen?

Polenz: Wenn alle Welt mit einem Wahlsieg von Erdogan rechnet und die Frage eigentlich nur ist, wie hoch er denn ausfällt, dann muss es ja so sein, dass die Türken selbst das Gefühl haben, es ist eine ganz gute Zeit gewesen, die sie jetzt mit dieser Regierung verbracht haben. Und wenn man sich die wirtschaftliche Entwicklung zum Beispiel anschaut, dann ist es in der Tat so, dass man von einem Tigerstaat am Bosporus sprechen könnte, um ein Bild zu gebrauchen, was früher für asiatische Länder wie Südkorea oder andere gebraucht worden ist.

Die Wirtschaft entwickelt sich auch in Sicht auf die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise stabil und robust, und Erdogan hat es sicherlich auch verstanden, durch die Art, wie er auftritt, der Türkei ein Selbstbewusstsein zu geben, was den Türken auch gut gefällt.

Pindur: Wirtschaftlich auf jeden Fall eine große Erfolgsgeschichte, da sind Wachstumsraten im Spiel, von denen wir nur träumen können - würden Sie auch sagen, dass die Situation der Menschenrechte und der Justiz sich deutlich verbessert hat in den letzten Jahren? Das war ja immer das große Problem, auch im Verhältnis zur EU.

Polenz: Die Fortschrittsberichte zeichnen hier ein gemischtes Bild. Die Europäische Kommission stellt einerseits Fortschritte fest, etwa bei den Veränderungen des Gesinnungsstrafrechts - wir hatten eine Verfassungsreform, die auch von der Europäischen Kommission grundsätzlich positiv bewertet worden ist. Wir sehen mit etwas gemischten Gefühlen unter dem Stichwort Ergenekon-Verfahren, dass auf der einen Seite sozusagen erstmals in der Geschichte der Türkei auch hochrangige Militärs verhaftet werden, dass Ermittlungsverfahren durchgeführt werden und Putschversuche, die dahinterstehen sollen, aufgeklärt werden.

Gemischte Gefühle aber deshalb, weil die Frage ist, schießt man übers Ziel hinaus, wird hier politisch abgerechnet. Und deshalb ist die Europäische Union im Hinblick auf das Stichwort Ergenekon sehr deutlich in der Aussage: Wir wollen hier eine möglichst große Transparenz in den Ermittlungsverfahren sehen, auch in den Prozessen, und wir werden das genau beobachten.

Pindur: Bleiben wir noch kurz beim Verhältnis der Türkei zu Europäischen Union: Wie werden sich Ihrer Ansicht nach die Beitrittsgespräche entwickeln? In der Türkei ist ja aufgrund auch des neuen Selbstbewusstseins der Ehrgeiz ein wenig geschwunden, in die EU zu kommen.

Polenz: Es kommt mehreres zusammen: Auf der einen Seite hat man zunehmend das Gefühl, wir können es doch vielleicht auch alleine ganz gut, wenn man etwa die wirtschaftliche Entwicklung anschaut. Das Zweite ist, die Reformen sind anstrengend, und warum soll man sich anstrengen, wenn es vielleicht auch anders geht. Und das Dritte ist, man bekommt aus Europa Signale, die in der Türkei so aufgefasst werden: Also ihr könnt eigentlich machen, was ihr wollt, wir Europäer wollen euch eigentlich doch nicht wirklich.

Und aus diesem Gemisch sieht man dann in den Meinungsumfragen, dass die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft und zur EU-Perspektive im Augenblick etwas abgenommen hat - sie ist immer noch um die 50 Prozent, wenn ich die letzten Umfragen richtig im Kopf habe. Aber es gibt ein Gefühl, bei Fragen beispielsweise, das beschreibt, wir wollen zwar in die EU, aber die Europäische Union wird uns nicht aufnehmen wollen, und deshalb wird es wohl nichts.

Pindur: Kommen wir noch mal zu den innenpolitischen Verhältnissen in der Türkei. Die türkische Verfassung soll erneuert werden, die jetzige stammt noch aus den 80er-Jahren, die ist noch von den Militärs entworfen worden. Da tut eine Änderung not, aber welche Änderungen müsste es Ihrer Ansicht nach denn geben?

Polenz: Ich glaube, die Frage sollte man verbinden mit Ihrer Einstiegsfrage, wie wird denn die Wahl ausgehen und welche Ergebnisse sollte man sich wünschen. Wir haben in Ungarn gesehen, dass eine Zweidrittelmehrheit einer Partei eine ganz große Versuchung bedeutet, weil es eine verfassungsändernde Mehrheit ist, die Dinge mehr oder weniger auch alleine dann zu machen, und die Zweidrittelmehrheit, die man ja überall für Verfassungsänderungen braucht, hat ja aber den Sinn, dass im Grunde gewährleistet sein soll, dass sich mehrere unterschiedliche Kräfte im Kompromisswege verständigen müssen.

Wenn aufgrund eines überragenden Wahlergebnisses diese Notwendigkeit zum Ausgleich und zum Kompromiss wegfällt, ist das in sich möglicherweise von vornherein problematisch, weil eben die Versuchung, jetzt machen wir das mal so, wie wir alleine uns das vorstellen, außerordentlich groß ist. Deshalb sollte man der Türkei und man sollte es sogar der AKP selbst wünschen, dass es keine verfassungsändernden Mehrheiten für eine Partei nach dieser Wahl gibt.

In dem Moment, wo man sich verständigen muss, glaube ich, kann man dann die notwendigen Verfassungsreformen angehen. Die alte Verfassung stammt ja im Prinzip noch aus der Zeit, wo das Militär die Herrschaft durch einen Putsch übernommen hatte, und da gibt es in der Tat vom Grundsatz her etwas zu verändern, was man die Überhöhung des Staates im Verhältnis zur Zivilgesellschaft beschreiben könnte als Problem. Und das macht sich in vielen Bestimmungen der jetzigen Verfassung fest, und hier liegt dann eigentlich die große Reformaufgabe.

Man rechnet damit, dass die Türkei zu einem Präsidialsystem übergehen will - das haben andere Länder auch, denken Sie an Frankreich -, und ich glaube, es spricht viel dafür, dass Erdogan auch die Vorstellung hat, dass er dann Präsident einer Türkei mit einer Präsidialverfassung werden möchte.

Pindur: Stärkung der Bürgerrechte, das ist Ihrer Ansicht nach also tatsächlich ein Schwerpunkt, den die neue Verfassung haben sollte?

Polenz: Ja, in jedem Fall. Das Verhältnis Staat-Zivilgesellschaft, das muss so ausbalanciert werden, wie wir das im übrigen Europa sehen, das ist das, worum es geht. Und die alte Militärverfassung - wenn ich das mal verkürzt so sagen darf -, die hat eben den Staat auf einem hohen Podest, und das hat sich dann eben überall ausgewirkt, bis hin zu dem, ich sag jetzt mal Gesinnungsstrafrecht im Hinblick etwa auf Beleidigung des Türkentums und Ähnlichem.

Pindur: Herr Polenz, vielen Dank für das Gespräch!


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