Polenz im Gespräch mit sueddeutsche.de: "Die Türken haben klug gewählt"
Ruprecht Polenz: Die Türken haben klug gewählt. Sie haben die enormen wirtschaftlichen Erfolge honoriert, die das Land unter der AKP-Regierung erreicht hat. In der Geschichte der modernen Türkei hatte zuvor noch keine Partei drei Mal hintereinander die absolute Mehrheit gewonnen. Zugleich haben die Wähler für die nötige Balance gesorgt: Die AKP hat nicht so viele Stimmen bekommen, um die Verfassung im Alleingang ändern zu können.
Polenz: Absolut. Das Wahlergebnis ist auch ein Appell an die anderen politischen Kräfte: Die größte Oppositionspartei CHP ist bisher vor allem durchs Neinsagen aufgefallen. Die Verfassungsreform ist sehr wichtig, denn es geht darum, das Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft neu zu gestalten. Die EU-Kommission mahnt seit langem Änderungen an, denn die jetzigen Regeln stammen noch aus der Zeit des Militärputsches 1982. Ob am Ende ein Präsidialsystem wie in Frankreich eingeführt wird, oder ob der Ministerpräsident weiterhin die wichtigste Rolle spielt, ist nachrangig.
sueddeutsche.de: Bayerns Innenminister Joachim Herrmann wertet das Ergebnis hingegen als Zeichen der Entfremdung Ankaras von Europa. Für den CSU-Politiker belegt das Resultat, "dass sich die Türkei immer mehr einem islamisch-konservativen Nationalismus" zuwende.
Polenz: Ich teile die Einschätzung überhaupt nicht. Die Türkei zeigt sich als eine gefestigte Demokratie: Die Wahlbeteiligung war mit 87 Prozent sehr hoch, es sind mehr Frauen ins Parlament gewählt worden als jemals zuvor und sitzen neben 36 kurdischen Abgeordneten. Herrmann hebt hervor, dass es die nationalistische MHP ins Parlament geschafft hat - aber solch radikale Kräfte hat es immer gegeben und ihr Stimmanteil ist im Vergleich zu 2007 gesunken.
sueddeutsche.de: Zudem ist erstmals seit 50 Jahren ein aramäischer Christ ins Parlament gewählt worden.
Polenz: Diese positive Nachricht zeigt, dass manche Schlagzeile, mit der wir das Geschehen in der Türkei zu fassen suchen, der komplexen Realität in diesem Land nicht gerecht wird.
sueddeutsche.de: Sie sind einer der wenigen Unionspolitiker, der für einen EU-Beitritt der Türkei ist. Wenn Sie nur drei Argumente hätten, um einen Skeptiker zu überzeugen, welche wären dies?
Polenz: Aus europäischer Sicht gewinnen wir mit der Türkei als EU-Mitglied größeren Einfluss in Nachbarregionen, die für die europäische Sicherheit wichtig sind: im Kaukasus, der Schwarzmeerregion und im Nahen und Mittleren Osten. Zudem bekommen wir eine Energiebrücke nach Zentralasien, die uns aus der Abhängigkeit von Russland etwas befreit. Umgekehrt ist für die Türkei ein EU-Beitritt die sichere Gewähr, dass die latent vorhandene Versuchung, in einen übersteigerten Nationalismus oder eine zunehmende Islamisierung abzugleiten, dauerhaft gebannt bleibt.
sueddeutsche.de: Und wie lautet Ihr drittes Argument?
Polenz: Eine Türkei, welche die Kopenhagener Beitrittskriterien erfüllt, beweist allen, dass unser Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten mit dem Islam vereinbar ist. Das ist ein wichtiges Signal an die arabische Welt.
sueddeutsche.de: Wie geht es nun mit den Verhandlungen zwischen Ankara und Brüssel weiter?
Polenz: Es steht und fällt mit der Frage, ob die Türkei ihre "Außenpolitik der null Probleme" endlich auch auf Zypern ausweitet. Die Türkei muss über ihren Schatten springen und das Ankara-Protokoll unterschreiben, das es zyprischen Schiffen und Flugzeugen erlaubt, Häfen und Flughäfen in der Türkei anzusteuern. Wenn dies nicht geschieht, dann gibt es bald nichts mehr zu verhandeln.
sueddeutsche.de: Dies dürfte Premier Erdogan schwerfallen, denn das Schicksal der in Nordzypern lebenden Türken wird heftig diskutiert.
Polenz: Erdogan und seine Regierung sollten die eigenen Prioritäten neu gewichten - und das Wahlergebnis auch als Auftrag sehen, innenpolitisch heikle Schritte zu unternehmen. Es dient dem langfristigen Wohl seines Landes.
sueddeutsche.de: Während des Wahlkampfs spielte der EU-Beitritt kaum eine Rolle. Manche Beobachter fürchten sogar, dass die Türkei mit ihrer boomenden Wirtschaft irgendwann gar kein Interesse mehr an einer Vollmitgliedschaft haben könnte. Ist dies nur eine Art Säbelrasseln?
Polenz: Ich halte das Argument für eine gefährliche Illusion. Wer so redet, der übersieht, dass das Anwachsen der ausländischen Investitionen eng mit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen im Jahr 2005 verknüpft ist. 2004 waren es jährlich nur 1,5 Millionen Dollar Direktinvestitionen, doch dieser Wert stieg seither auf etwa 20 Milliarden. Die Investoren erwarten Verlässlichkeit und würden reagieren, wenn der Beitrittsprozess eingestellt würde.
sueddeutsche.de: Die Arbeit an der neuen Verfassung wird zeigen, wie ernst es die Regierung mit der Annäherung meint. Welche Punkte sind in dieser Frage besonders wichtig?
Polenz: Es geht um das Verhältnis des Staates zur Zivilgesellschaft. Das beinhaltet die Frage, wie viele Rechte die Regionen und Kommunen künftig erhalten. Der Minderheitenschutz spielt eine wichtige Rolle: Die Kurden müssen mehr kulturelle Autonomie bekommen und ihre Sprache nutzen dürfen - doch zugleich muss deren Loyalität zum türkischen Staat festgeschrieben werden. Auch in Sachen Religionsfreiheit muss einiges verbessert werden. Doch vor allem muss der Staat von seinem hohen Podest heruntergeholt werden, auf dem er seit Atatürk steht.
sueddeutsche.de: Was bedeutet das?
sueddeutsche.de: Wie sieht es mit der Stellung der Frau in der türkischen Gesellschaft aus?
Polenz: In diesem Punkt werden wir ebenfalls genau hinschauen, wobei die rechtlichen Grundlagen laut EU-Kommission weitgehend vorhanden sind. Hier scheint die Praxis eher das Problem.
sueddeutsche.de: Sie haben bereits 2010 in Ihrem Plädoyer "Besser für beide" die Türkei als Modell für die "arabische Welt" bezeichnet. Die letzten Monate haben Ihnen offenbar recht gegeben.
Polenz: Es stimmt, dieser Punkt hat an Bedeutung zugenommen. Gerade für Staaten wie Tunesien oder Ägypten, die momentan nach Orientierung suchen, ist die Türkei ein Vorbild. Auch die AKP als Partei ist für viele konservative Kräfte in diesen Ländern sehr interessant. Daraus ergibt sich eine große Verantwortung für die Türkei, aber zugleich eine große Chance für die EU.
sueddeutsche.de: Wie könnte Europa davon profitieren?
Polenz: Wir haben ein enormes Interesse daran, dass auf den arabischen Frühling auch ein Sommer folgt. Gemeinsam mit dem modernsten islamischen Staat, eben der Türkei, lässt sich diese Entwicklung viel besser in die gewünschte Richtung lenken als ohne sie oder gar gegen sie.
sueddeutsche.de: Die Türkei wird ein immer wichtigerer Akteur in Nahost und unterhält gute Kontakte nach Damaskus und Teheran. Nun ist der Wahlkampf vorbei: Könnte Erdogan diese Beziehungen nicht besser nutzen - und etwa auf Syriens Diktator Assad einwirken?
Polenz: Wichtig ist sicher, dass die Türkei nach der Wahl ein Stabilitätsfaktor in einer Region ist, die große Umbrüche erlebt. In Syrien, also in direkter Nachbarschaft, setzt Präsident Assad brutalste Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ein, so dass viele Syrer in die Türkei geflohen sind. Es ist richtig, dass Deutschland da Hilfe anbietet. Zurzeit ist gezielter öffentlicher Druck auf Syrien enorm wichtig. Hier sollte die Türkei immer dabei sein - ebenso in der Diskussion über mögliche Sanktionen.
sueddeutsche.de: Das würde aber bedeuten, in der Außenpolitik von dem Leitwort "Null Probleme mit den Nachbarn" abzurücken.
Polenz: In diesem Fall sind die Menschen die Nachbarn und nicht die Regierungen. Erdogan hat sicher bis vor drei oder vier Wochen gehofft, dass Präsident Assad die Lage in den Griff bekommt. Doch der türkische Premier weiß auch, dass die Lage in Syrien immer schlimmer wird, wenn Assad weiter auf Gewalt setzt. Entsprechend agiert man nun in Ankara. Die Tatsache, dass sich ein Teil der syrischen Exil-Opposition in Antalya treffen konnte, gibt Hoffnung.
Das Gespärch führte Matthias Kolb. Nachzulesen hier.
Das Buch "Besser für beide. Die Türkei gehört in die EU" von Ruprecht Polenz ist 2010 in der Edition Körber Stiftung erschienen.