Ruprecht Polenz

Polenz: "Türkei boxt außenpolitisch über ihrer Gewichtsklasse”

Ruprecht Polenz im Interview mit den Deutsch Türkische Nachrichten durch Felix Kubach, v

Ruprecht Polenz (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, äußert im Interview seine Sorge bezüglich der Verschlechterung des türkisch-israelischen Verhältnisses. Zudem sei die Türkei dabei, mit ihrer Haltung gegenüber Zypern den Prozess um einen EU-Beitritt zu verlangsamen.

Deutsch Türkische Nachrichten: Derzeit scheint sich Erdogan gleich mit mehreren Staaten anzulegen, etwa mit Israel und mit Griechenland im Konflikt um die Gasvorkommen vor Zypern. Überschätzt er sich?

Polenz: Ich hab schon den Eindruck, dass die Türkei außenpolitisch über ihrer Gewichtsklasse boxt seit einiger Zeit. Das hängt auch mit der Einschätzung zusammen, man sei im Mittelpunkt zwischen Ost und West, Nord und Süd quasi der Nabel der Welt, um den sich alles drehe und das verleihe einen besonderen Einfluss. Ich halte diesen Teil der strategischen Analyse des türkischen Außenministers für nicht berechtigt.

Türkei sollte sich weiter in Richtung Europa orientieren

Deutsch Türkische Nachrichten: Was glauben Sie: Rührt das neue Selbstbewusstsein vielleicht auch daher, dass ihm auf Grund seiner verbalen Attacken gegenüber Israel auch von der arabischen Welt her viel Zuspruch zuteil wurde?

Polenz: Ich glaube, die Türkei ist ein wichtiges und großes Land. Aber ähnlich wie Deutschland, wie Großbritannien, wie Frankreich, wie anderen vergleichbaren Länder, ist es in der globalisierten Welt Ländern dieser Größenordnung nicht mehr möglich, weit über die eigenen Grenzen hinaus Einfluss zu nehmen, ohne selbst eingebunden zu sein. Deshalb bleibt es wichtig, dass sich die Türkei weiterhin in Richtung Europa orientiert, um von einem festen Fundament aus dann regional-politischen Einfluss zu nehmen. Auf sich allein gestellt bliebe der Einfluss begrenzt.

Deutsch Türkische Nachrichten: Wie sehen Sie denn im Speziellen die Lage im Fall Israel, wo sich die Stimmung ja sehr aufgeheizt hat?

Polenz: Die Verschlechterung des türkisch-israelischen Verhältnisses macht mir große Sorge. Wir haben ein besonderes Verhältnis zu Israel als Bundesrepublik Deutschland. Wir sind eng befreundet mit der Türkei. Wenn sich zwei Freunde nicht mehr verstehen, dann betrifft uns das natürlich auch. Aber es ist vor allen Dingen strategisch für beide Länder von Nachteil, wenn sie es nicht schaffen, ihr Verhältnis wieder in Ordnung zu bringen. Deshalb bemüht sich Deutschland auch in Gesprächen mit den jeweiligen Freunden dazu beizutragen, dass sich das Verhältnis wieder verbessert.

Deutsch Türkische Nachrichten: Warum entschuldigt sich Israel nicht einfach offiziell für die Toten der “Mavi-Marmara” vom vergangenen Jahr?

Polenz: Es hat ja Versuche hinter den Kulissen gegeben, diplomatische Formeln zu finden, die dem Wunsch nach Entschuldigung und auch Wiedergutmachung einerseits entsprechen, andererseits aber auch dem Standpunkt Rechnung tragen, dass das ganze Flotilla-Unternehmen eine Aktion war, die nicht jenseits jeder Kritik steht. Diese Versuche sind leider letztlich bisher gescheitert. Ich glaube auch, dass man, um den Konflikt beizulegen, zunächst einmal nicht nach hinten schauen darf, sondern nach vorne schauen muss, um zu erkennen, wie wichtig ein besseres Verhältnis Türkei-Israel für beide Länder ist. Und wenn man davon überzeugt ist, dass man ein besseres Verhältnis will, weil es im eigenen Interesse liegt, dann findet man auch eine Lösung.

Deutsch Türkische Nachrichten: Befürchten Sie denn, dass es zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Israel und der Türkei kommen könnte?

Polenz: Nein, das halte ich für ausgeschlossen.

Deutsch Türkische Nachrichten: Viele Stimmen wurden laut, die ein Land, welches wie die Türkei am laufenden Band Drohungen ausstößt, nicht in der EU sehen wollen. Wie ist Ihre Einschätzung?

Polenz: Sicherlich hilft diese Art der außenpolitischen Bewegung der Türkei auf dem Weg nach Europa nicht. Auf der anderen Seite ist aber auch klar, wenn der Weg beendet würde, würden solche Alleingänge zunehmen und sowohl uns in Europa als auch der Türkei noch größere Schwierigkeiten bereiten. Deshalb,denke ich, muss man mit Geduld, aber auch mit vielen Gesprächen daran arbeiten, dass man wieder verstärkt zu einer gemeinsamen Sicht der Entwicklungen kommt. Dann kann man auch gemeinsam handeln.

Keine Lösung, wenn der EU-Prozess verlangsamt wird

Deutsch Türkische Nachrichten: Einerseits beteuerte Staatspräsident Gül vor kurzem bei seinem Besuch in Deutschland die Absicht, der EU beizutreten, andererseits muss er doch wissen, dass solche Aktionen wie gegen Israel oder Zypern ihn von der EU entfernen. Hat er den Plan einer EU-Mitgliedschaft vielleicht längst aufgegeben?

Polenz: Ich sehe diese Widersprüche auch, aber diese Widersprüche zu erkennen, bedeutet ja noch nicht, dass man eine Lösung dafür hätte. Aus meiner Sicht kann man die Lösung nur finden, wenn der EU-Prozess fortgesetzt wird. Allerdings ist die Türkei im Augenblick selber dabei, in entscheidenden Punkten den Prozess zu verlangsamen. Am Beispiel Zypern kann man das gut beschreiben. Wenn die Türkei eine “Politik der Null-Probleme” mit den Nachbarn erklärtermaßen verfolgt, muss sie sich fragen lassen, warum sie Zypern von dieser “Null-Probleme-Politik” ausschließt. Zweitens, wenn die Türkei sagt: “Unsere wichtigste Priorität ist nach wie vor der EU-Beitritt”, dann muss sie sich fragen lassen, warum sie dann die weiteren Schritte nach Europa durch die ungelösten Probleme rund um Zypern blockieren lässt.

Deutsch Türkische Nachrichten: Die Türkei hat angekündigt, den Gasvertrag mit Russlands Gazprom zum Ende dieses Jahres auslaufen zu lassen. Verlässt sich die Türkei bereits auf die Vorkommen vor der Küste Zyperns, die sie erschließen möchte?

Polenz: Ich sehe mit einer großen Sorge, dass wir auf der einen Seite immer noch eine ganze Menge Rechtsstreitigkeiten haben im östlichen Mittelmeer, wem welche Zonen gehören. Da geht es zwischen der Türkei und Griechenland um die Ägäis. Da geht es jetzt um Fragen zwischen der Türkei und Zypern. Und es ist ganz dringend, dass sich alle Beteiligten darauf verständigen, diese Fragen vor internationalen Gerichten oder Schiedsgerichten klären zu lassen und nicht den Versuch unternehmen, durch einseitiges Handeln Fakten zu schaffen. Das kann dann leicht in einen Konflikt, möglicherweise sogar in Gewalt münden.

Türkei muss für Investoren berechenbar bleiben

Deutsch Türkische Nachrichten: Welchen Vorteil hätte die Türkei überhaupt noch von einer EU-Mitgliedschaft angesichts der Finanzkrise?

Polenz: Zunächst einmal bedeutet der Verhandlungsprozess mit der Europäischen Union ein grundlegendes Modernisierungsprogramm für die Türkei, weil dieser Prozess ja bedeutet, dass die Türkei das gemeinsame europäische Recht als eigenes Recht übernehmen und in türkisches Recht überführen und dann auch praktizieren muss. Die Türkei bekommt also ein fortschrittliches Umweltrecht, Wettbewerbsrecht, Gesundheitsrecht und so weiter. Das bekommt sie auf keinem anderen Weg. Das zweite ist: Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei hat sich mit Beginn der Beitrittsverhandlungen deutlich verbessert. Nicht zuletzt wegen der sprunghaft angestiegenen Auslandsinvestitionen. Vor Beginn der Beitrittsverhandlungen hatte die Türkei 1,5 Milliarden US-Dollar Auslandsinvestitionen. Mit Beginn ist das auf über 20 Milliarden hoch geschnellt und auf diesem hohen Niveau verblieben, auch wenn es zwischenzeitlich durch die Weltwirtschaftskrise einen gewissen Einbruch gab. Alles das würde die Türkei aufs Spiel setzen, wenn sie zu erkennen gäbe, dass sich die Richtung, in die sie geht, ändert. Denn dann wäre sie nicht mehr so berechenbar. Die Investoren wollen vor allen Dingen Berechenbarkeit. Das Ziel der EU-Mitgliedschaft hat der Türkei Berechenbarkeit gegeben. Diese setzt sie aufs Spiel, wenn sie das Ziel fallen lässt.

Deutsch Türkische Nachrichten: Gleichzeitig existiert eine Nähe zum Iran. Ahmadinedschad zumindest bezeichnet die Türkei als “Freunde”. Wie betrachten Sie das Verhältnis?

Polenz: Die Türkei ist Nachbarland des Iran. Die Grenze zwischen der Türkei und dem Iran ist seit Jahrhunderten dieselbe. Die Türkei hat gewisse Interessen, die sich aus dieser Nachbarschaft ergeben, was das Thema Energie angeht, was bestimmte Formen der Zusammenarbeit angeht. Auf der anderen Seite muss auch die Türkei ein Interesse daran haben, dass ihr Nachbar nicht immer gefährlicher wird. Er würde besonders gefährlich, wenn er über Nuklearwaffen verfügen würde. Deshalb ist es schon wichtig, dass sich die Türkei hier an den diplomatischen und politischen Bemühungen beteiligt, die die Weltgemeinschaft unternimmt, um den Iran zu einer Veränderung seines Nuklearprogramms zu bringen. Außerdem – und das war ein wichtiger Schritt – ist die Türkei ja NATO-Partner und sie hat sich – das begrüße ich ausdrücklich – dazu bereit erklärt, für die Raketenabwehr ein Hochleistungsradar im Südosten des Landes stationieren zu lassen, das unter anderem dazu beitragen wird, Raketenbedrohungen auch aus dem Iran wirksam zu begegnen.

Deutsch Türkische Nachrichten: Das Raketenschild hat Ahmadinedschad erst in dieser Woche scharf kritisiert…

Polenz: Ja, und natürlich ist das Gewicht, mit dem auf den Iran Einfluss genommen werden kann, um seine Hegemonialpolitik, auch um seine Menschenrechtsverstöße und ständigen Verletzungen der Menschenrechte zu verändern, mit der Türkei größer als wenn sich die Türkei abseits hält oder gar dagegen arbeiten würde. Aber ich sehe die Türkei, was die Iran-Politik angeht, nicht zuletzt auch wegen dieser Entscheidung über das Radar doch auf einem Weg, der wieder stärker zurück in die gemeinsame Politik der Weltgemeinschaft und des UN-Sicherheitsrats weist.

Das Gespräch führte Felix Kubach