Am 21. Juli 2011 haben die Staats- und Regierungschefs der Eurozone weitere Beschlüsse zur Stabilisierung des Euro gefasst. Über diese Entscheidungen wie über Hilfen für den Süden Europas wird rege debattiert. Ich stelle mir in dieser Diskussion einige grundsätzliche Fragen zur Bedeutung Europas für uns Deutsche.
Was ist uns Europa wert? Was ist es uns, einer Export- und der wirtschaftsstärksten Nation Europas, wert, mehr als 5000 Kilometer ohne einen einzigen Grenzzaun fahren zu können? Was ist uns die Möglichkeit wert, überall in Europa studieren zu können? Was ist es uns wert, ohne Kriegsangst oder Bedrohung durch unsere Nachbarn leben und von jetzt auf gleich ein Wochenende in Rom oder Kopenhagen verbringen zu können?
Gerade Deutschland als weltweit operierende Wirtschaftsnation hat ein vitales Eigeninteresse an einem stabilen Euro und einer funktionierenden Wirtschafts- und Währungsunion. Wir exportieren 60 Prozent unserer Waren in die Länder des europäischen Binnenmarkts. Es sind diese Exportstärke und die europäischen Absatzmärkte, die uns derzeit den größten Aufschwung seit Jahrzehnten bescheren und zu einer beständig sinkenden Arbeitslosenzahl führen.
Es ist natürlich richtig, zu hinterfragen, ob europäische Instanzen und Regierungen die richtige Finanzpolitik betrieben haben und sie auch zu kritisieren. Auch dass Griechenland seinen wahren Schuldenstand lange verschwiegen hat, ist aller Kritik wert. Daraus aber die Konsequenz zu ziehen und dem Süden Europas Hilfe zu versagen, bedeutete, die europäische Union als Ganzes zu gefährden.
Die Krise Europas werden wir nur dann lösen, wenn wir gemeinsam handeln und in eine Richtung gehen. Dazu benötigen wir nicht weniger, sondern mehr Solidarität. Die Hilfen, die auf dem Euro-Sondergipfel am 21. Juli 2011 beschlossen wurden, sind ein Zeichen dafür.
Das zweite Griechenland-Paket für die Zeit von 2011 bis 2014 hat ein Volumen von 109 Milliarden Euro. Mit niedrigen Zinssätzen und längeren Laufzeiten sollen die Schuldentragfähigkeit und das Refinanzierungsprofil Griechenlands verbessert werden. Für neue Kredite werden die Zinsen von derzeit 4,5 auf 3,5 Prozent gesenkt und die Laufzeiten von 7,5 auf mindestens 15 und maximal 30 Jahre verlängert.
Private Gläubiger beteiligen sich mit weiteren 50 Milliarden Euro bis 2014 an der Unterstützung Griechenlands. Durch einen bis 2020 befristeten Anleihentausch beläuft sich der Gesamtbeitrag von Banken und Versicherungen auf 106 Milliarden Euro.
Zudem wurden zahlreiche Hilfen zur Stärkung der griechischen Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums beschlossen, damit das Land wieder in die Lage kommt, seine Schuldentragfähigkeit zu gewährleisten und seine Staatsfinanzen selbst zu organisieren.
Auch für Portugal und Irland werden die Zinsen der laufenden Kreditprogramme gesenkt und die Laufzeiten verlängert. Darüber hinaus werden zusätzliche günstige Kredite bereitgestellt, aber nicht genutzt. Sie dienen der Beruhigung der Finanzmärkte und würden nur gegen Konsolidierungsauflagen vergeben.
Die EU-Staats- und Regierungschefs haben ebenfalls beschlossen, die Kompetenzen des Euro-Rettungsschirms zu erweitern. Auf Grundlage einer Analyse darf die EZB Altschulden zur Marktpreisen aufkaufen. Voraussetzung dafür ist ein einvernehmlicher Beschluss der Euro-Staaten. Auch darf er künftig vorsorglich Kredite an Länder vergeben, die in Schwierigkeiten kommen und Banken mit Krediten für eine bessere Kapitalausstattung versorgen.
Viele wenden sich gegen eine so genannte „Transferunion“. Der deutsche Länderfinanzausgleich ist eine Transferunion. Durch diesen Mechanismus fließen ständig substantielle Beiträge von reichen an arme Bundesländer. Einen solchen automatischen Finanzausgleich gibt es in Europa nicht. Die EU verfügt über regionale Strukturfonds.
Die Euro-Staaten sind jedoch eine solidarische Haftungsgemeinschaft. Man könnte diesen Mechanismus mit einer Versicherung vergleichen. Kein Versicherungsunternehmen bietet einen Vollkaskoschutz ohne Selbstbeteiligung an. Die Haftungsgemeinschaft bietet soldarische Hilfe bei Schäden an, belohnt aber nicht diejenigen, die mutwillig Unfälle verursachen.
Diesem Prinzip entsprechend hat die EU sich Regeln auferlegt, die im Gegenzug zu einer politischen Form der Selbstbeteiligung diejenigen Mitglieder unterstützt, die Hilfe brauchen.
Transferleistungen – die es im Übrigen nicht erst seit der Finanzkrise gibt –, sollen gleichwertige Lebensverhältnisse für die Menschen in Europa schaffen. Davon profitieren auch deutsche Bundesländer.
Was jetzt notwendig ist, sind nicht nur finanzielle Hilfen für Griechenland, sondern Unterstützung beim Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Vor allem müssen wir – auch das sehe ich als Gemeinschaftsaufgabe – der griechischen Bevölkerung wieder eine Wohlstands- und Wachstumsperspektive eröffnen. In den Bereichen Energie und Infrastruktur, Pharma und Informationstechnologien sowie im Logistiksektor, aber auch bei der Privatisierung staatlicher Unternehmen bieten sich konkrete Projekte zur Schaffung von Arbeitsplätzen an. Großes Produktivitätspotential steckt auch im Umweltbereich, konkret beim Abfallmanagement und Recycling.
Unterstützung braucht Griechenland auch bei der Schaffung notwendiger Rahmenbedingungen, d.h. Rechtssicherheit, zügige Genehmigungsverfahren, Bekämpfung der Korruption und einer vernünftigen Steuerpolitik. Wenn das gelingt, hat das Land alle Chancen, die Krise zu überwinden.
Donald Tusk, der polnische Premierminister hat unlängst in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gesagt, dass „Europa nämlich der beste Ort der Welt (sei), wenn wir es unter dem Blickwinkel der Grundsätze und Werte betrachten, die sich hier auf den Menschen konzentrieren“. Zudem sei Europa nach wie vor ein Vorbild, dem die ganze Welt folge.
Es ist keine Frage: Ein Europa der Solidarität hat seinen Preis. Aber es lohnt sich diesen Preis zu zahlen – für unsere und die Interessen Europas in der Welt.
Ruprecht Polenz