Ruprecht Polenz

Der Nahe Osten – eine Chance für Europa

Jung und Alt, Männer und Frauen – Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien, Bahrain und Jemen: Überall in der arabischen Welt sind die Menschen auf die Straßen gegangen, um zu kämpfen für Freiheit, Würde und Arbeit. Sie tun es immer noch. Viele haben ihre Leben dabei verloren oder ihre Gesundheit. Viele wurden und werden gefangen gehalten oder sogar gefoltert in Gefängnissen von Militär und Sicherheitsbehörden.

Je nach Land wechseln Hoffnung, Zuversicht und gewaltlose Auseinandersetzungen ab mit Ernüchterung, erneuten Gewaltausbrüchen und dem hartnäckigen Bestehen der alten Ordnung. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern der Region sind groß. Die jeweiligen Entwicklungen und Ergebnisse der Rebellionen werden nicht übereinstimmen, sondern von Land zu Land variieren.

Einheitlich sind jedoch die Ursachen für die Arabellion: jahrzehntelange, massive Verletzungen von Menschenrechten und Menschenwürde, fehlende wirtschaftliche und persönliche Perspektiven, Korruption und schlechte Regierungsführung, zunehmende Ungleichheit sowie Benachteiligung von Frauen und jungen Menschen. Demonstranten kämpfen für Arbeits- und Ausbildungsplätze, gesicherte Einkommen und wirkliche demokratische Mitspracherechte. Maßgeblicher Träger der Bewegungen ist die Generation der 20 bis 35jährigen, die bislang überwiegend die Erfahrung teilen musste, trotz guter Bildung und Ausbildung zur Arbeitslosigkeit verdammt zu sein und wirtschaftliche, soziale und politische Teilhabe nicht erleben zu können. Die Forderungen der Protestbewegungen sind vor allem unideologisch und post-islamistisch. Zwar wird der politische Islam künftig eine Rolle spielen, dennoch gab es bis jetzt nur in Einzelfällen ideologisch motivierte, religiöse oder nationalistische Rufe. Nirgendwo war die Forderung nach einer islamischen Revolution zu hören. Der Wunsch nach individueller Freiheit und Demokratie steht außerdem im krassen Gegensatz zum islamistischen Dschihad und den terroristischen Zielen Al Qaidas.

Niemand weiß, wie lange der „arabische Frühling“ andauern, auch nicht, wie er historisch einzuordnen sein wird. Ob die Geschehnisse mit den Umwälzungen der Jahre 1989/90 in Osteuropa verglichen werden können – auch das wird sich erst künftig erweisen. Schon heute steht aber fest, dass sich kein Staat des Nahen und Mittleren Ostens dieser Woge entziehen kann. Die Menschen haben keine Angst mehr vor Repressionen. Das ist es, was dem gesamten Prozess seine ungeheure Kraft verleiht. Dieser ungeheure Mut verdient unsere Unterstützung – moralisch, materiell und politisch. Nicht zuletzt ist es in unserem eigenen Interesse, dass eine Region, die vor der europäischen Haustür liegt, sich hin zu dauerhaft stabiler Prosperität und Demokratie entwickelt. Dieser Weg wird schwer. Es wird Rückfälle geben.

Welche Interessen haben wir an einem friedlichen und demokratischen Nahen Osten?
Das ist zum Einen die wirtschaftliche Zusammenarbeit im Bereich Energie. Trotz aller Bemühungen um Energieeffizienz wird unser Verbrauch in den nächsten Jahren steigen. In der Region von Marokko bis zum Persischen Golf befinden sich die weltweit größten Öl- und Gasreserven. Die Förderung von Solarenergie ist in der Region noch weitgehend ungenutzt. Für unsere heimische Wirtschaft bieten sich hier zahlreiche Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Die Vorteile eines verbesserten Zugangs deutscher Unternehmen zu diesen Märkten liegen auf der Hand.

Modernisierung, Reformen und gute Regierungsführung bedeuten Stabilität, wirtschaftliche Entwicklung und damit ein gutes Stück Sicherheit. Die Sicherheit in der Region des Nahen Ostens ist auch unsere Sicherheit.

Wir haben zudem das Interesse, Migrations- und Flüchtlingsströme aus der Region nach Europa zu vermeiden. Deswegen müssen wir direkt in und gemeinsam mit den Ursprungsländern die Ursachen dafür bekämpfen.

Der internationale Terrorismus bedroht uns weiter. Wir sollten mit den Regierungen der Länder des Nahen Osten auch hier eine enge Zusammenarbeit anstreben.

Nicht zuletzt haben wir ein strategisches Interesse an der Sicherheit Israels.

Ob diese politische und gesellschaftliche Verwandlung Demokratieformen nach unserem westlichen Verständnis hervorbringen wird, können wir nicht vorhersehen.

Anlass zur Hoffnung gibt die Entwicklung in Tunesien. Am 23. Oktober haben Wahlen zu einer Verfassungsgebenden Versammlung stattgefunden, die im November erstmals zusammentreffen soll. Es war ein regelrechter Ansturm, der in den Wahllokalen stattfand. In vielen Wahlbezirken lag die Wahlbeteiligung bei über 90 %. Viele Menschen warteten stundenlang vor den Wahllokalen, um zum ersten Mal ihre Stimme in einer freien und demokratischen Wahl abgeben zu können. Internationale Wahlbeobachter lobten Organisation und Ablauf des Urnengangs. Als Sieger ging die schon zuvor favorisierte, sich als gemäßigt islamistisch gebende Ennahada-Partei hervor. Bereits vor Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses erklärte die Parteiführung, mit allen Parteien Koalitionsverhandlungen führen zu wollen.

Ennahda war die Partei, deren Mitglieder am meisten unter Verfolgung und Repression durch das Regime Ben Alis zu leiden hatten. Die Partei ist heute ein Symbol gegen Unterdrückung und Repression und für den Bruch mit dem alten Herrschaftssystem. Das ist der Hauptgrund für den Wahlerfolg. Zudem bot der religiöse Hintergrund der Partei den Wählern eine vor allem moralische Orientierung in der unübersichtlichen politischen Landschaft mit weit über hundert Parteien, deren insbesondere soziale Wahlversprechen häufig an Utopie grenzten. Bislang sieht es so aus, als würde der liberale Kurs der Partei fortgesetzt. Will die Partei säkular denkende Freiheitskämpfer und die breite gebildete Mittelschicht des Landes nicht anderen politischen Strömungen in die Arme treiben, kann sie nur so verfahren.

In Ägypten herrscht auch zehn Monate nach dem Sturz von Präsident Mubarak das Militär und mit ihm die Notstandsgesetzgebung und Militärgerichte, die Urteile über Zivilisten fällen. Parlamentswahlen sollen ab dem 21. November abgehalten werden. Die Wahl des Präsidenten ist erst für Ende 2012 vorgesehen. Es scheint, als wolle das Militär der Machtfaktor bleiben, der es immer war. Im Vorfeld der Wahlen entfalten sich nun die politischen und gesellschaftlichen Kräfte. Parteien-Blöcke bilden sich, die demokratische und islamistische Gruppierungen einschließen. Es wächst die Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung, die dem Militärrat vorwirft, die Probleme zu verschleppen.

Der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi ist tot. Der Kampf des Regimes ist beendet. Der Nationale Übergangsrat hat den Prozess für Wahlen und zur Ausarbeitung einer Verfassung eingeleitet. Vor dem Land und seiner künftigen Führung liegen enorme Herausforderungen. Diese liegen nicht am Geldmangel oder fehlendem Zugang zu den europäischen Märkten, wie das bei Tunesien und Ägypten der Fall ist. Es sind fehlende politische Strukturen, die jetzt geschaffen werden müssen. Libyen hatte bislang keine Verfassung, nur schwach ausgebildete Institutionen. Ob der neue Staat föderal oder zentralistisch aufgebaut sein, eine präsidentielle oder parlamentarische Form haben, eher säkular oder islamistisch geprägt sein wird – all dies wird sich erst in der nächsten Zeit entscheiden. Hinzu werden Machtkämpfe kommen zwischen Milizionären, ehemaligen Angehörigen des Regimes, Exilanten, den Stämmen und auch innerhalb der neuen politischen Führung des Landes.

Der Westen wird wenig Einfluss auf die Entwicklung des Landes nehmen können. Wir müssen damit rechnen, dass politische Kräfte die Oberhand gewinnen, die unseren eigenen, den westlichen Interessen widersprechen. Was wir jedoch tun können, ist unsere Hilfe anbieten, um den Staatsaufbau zu unterstützen. Wir müssen genau hinschauen, in welcher Weise politische Parteien und Gruppierungen Religion und Politik untereinander in Verbindung bringen.

Es ist irreführend, wenn wir verallgemeinernd alle mögliche Gruppierungen als „Islamisten“ bezeichnen, türkische AKP über die Ennahda in Tunesien, die Moslembrüder in Ägypten, Salafisten oder Dschihadisten. Wir müssen genau hinsehen, welche Vorstellungen von der Zukunft ihrer Länder sie entwickeln und vor allem was sie konkret tun, ob sie bereit sind, die demokratischen Spielregeln zu akzeptieren und sie auch gegen sich gelten zu lassen. Und wir müssen die Gegenfrage stellen, wie hältst Du es mit der Religion der Anderen, Andersgläubigen.

In Syrien reißt Präsident Assad sein Volk in einen Abnutzungskrieg. In den Kämpfen zwischen Oppositionellen und den Truppen Assads sind nach UN-Angaben schätzungsweise bislang 3500 Menschen umgekommen. Menschenrechtsgruppen gehen von höheren Zahlen aus. Unzählige sind inhaftiert. Die Menschenrechtslage ist dramatisch. Bis zum Sommer trug der Präsident für die internationale Gemeinschaft noch den Willen zur Reform nach außen. Inzwischen jedoch gehen seine Truppen immer härter gegen Demonstranten vor, auch gegen Frauen und Kinder. Proteste werden brutal niedergeschlagen. Es scheint, das Regime will einen Bürgerkrieg herbeiführen. Für die Opposition erschwerend kommt hinzu, dass das Militär und weite Teile des Bürgertums hinter dem Regime stehen. Trotz des enorm hohen Blutzolls und des Risikos eines Bürgerkriegs wird Assad nicht mehr gewinnen können. Fraglich ist, wie lange er sich noch an der Macht halten kann. Und es ist zu befürchten, dass noch viele Menschen in diesem Kampf ihr Leben verlieren müssen.

Unabhängig von den länderspezifischen Situationen und dem weiteren Verlauf sind wirtschaftliche Stabilisierung und Konsolidierung die Grundvoraussetzungen für gesellschaftliche und demokratische Stabilität. Deutschland und Europa haben die einmalige Chance, in ihrer Nachbarregion zu Stabilität, Freiheit und nachhaltiger Entwicklung beizutragen. Dafür hat die Europäische Union das Konzept einer „Transformationspartnerschaft“ entwickelt. Unterstützt werden damit insbesondere rechtstaatliche, wirtschaftliche und soziale Fortschritte. Nicht nur der jungen Generation sollen durch eine Dynamisierung dieser Prozesse greifbare Perspektiven geboten werden.

Von europäischer Seite bedeutet dies vor allem eine Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit, die Öffnung der europäischen Märkte für die Agrarprodukte der Region und einen intensivierten Austausch im Bereich Ausbildung und Bildung.

Deutsche Hilfe konzentriert sich insbesondere auf die Länder Tunesien und Ägypten. Mittel wurden beispielsweise zur Verfügung gestellt für die Unterstützung zivilgesellschaftlichen Engagements und die Förderung einer offenen Gesellschaft, konkret für die Beratung von Parteien und Übergangsgremien sowie für Journalistenförderung. Derzeit werden in Krankenhäusern der Bundeswehr Kriegsopfer aus Libyen behandelt.

Die Schlüsselrolle kommt den Akteuren vor Ort zu. Sie zu beraten bei der Schaffung der richtigen Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Wachstum, darin sieht die Bundesregierung ihre Aufgabe.

Innerhalb der Europäischen Union setzt sich die Bundesregierung dafür ein, so zügig wie möglich den Marktzugang der südlichen Mittelmeeranrainer zu den europäischen Märkten zu erleichtern. Im Bildungs- und Ausbildungssektor sowie im schulischen Bereich sollen Stipendienprogramme, eine engere Forschungszusammenarbeit sowie der Austausch von Schülern und Jugendlichen Grundlagen schaffen, um die Öffnung der Staaten zu verfestigen. Dazu gehören Qualifizierungsmaßnahmen von Studenten und Fachkräften in Deutschland. Auch die europäische Migrationspolitik soll neu aufgestellt werden. Zeitlich befristete Migration, d.h. beispielsweise der erleichterte Zugang für Unternehmer nach Europa durch Firmenpartnerschaften ist ein weiterer Baustein der Unterstützungsleistungen.

Für diese Unterstützungsleistungen hat die Bundesregierung für die Jahre 2012 und 2013 zusätzlich 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Ägypten wurde zudem eine Schuldenumwandlung in Höhe von 240 Millionen Euro angeboten, die über vier Jahre gestreckt, Entwicklungszwecken zu Gute kommen soll. Zwei Millionen fließen in die Förderung unabhängiger Medien und Beratung staatlicher Institutionen in Ägypten.3,25 Millionen Euro hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der ägyptischen Regierung durch die Arbeit politischer Stiftungen zur Verfügung gestellt. Tunesien hat für diesen Zweck 5,25 Millionen Euro erhalten. Dort stehen auch 8 Millionen Euro zur Qualifizierung und Beschäftigungsförderung Jugendlicher, für Existenzgründerprogramme, Jobbörsen, zur Förderung der Arbeitsvermittlungsstrukturen und Berufsbildungspartnerschaften mit Kammern und Unternehmern zur Verfügung, um nur einige Beispiele zu nennen.

Der „arabische Frühling“ hat nicht nur die Menschen in der Region verändert, sondern auch unser Bild vom Islam. Nach dem 11. September herrschte bei uns eine verbreitete Skepsis gegenüber dem Islam und die Vorstellung von der Unvereinbarkeit westlicher Werte mit „dem“ Islam. Die Religion wurde als singuläre Ursache sozialer Missstände betrachtet und Verhaltensweisen, gesellschaftliche Strukturen oder Wertvorstellungen werden dem Islam zugeschrieben mit der Scharia als Fundament des radikalen Islamismus. Es herrschte die Meinung, dass eine Trennung von Religion und Politik im Islam nicht möglich sei. Die arabische Revolution mit dem Ruf nach Freiheit, Demokratie und Menschenwürde beginnen die These der Unvereinbarkeit aufzubrechen. Die Protestierenden haben ihr Leben für freiheitliche Werte aufs Spiel gesetzt, es bereits tausendfach verloren und gehen dieses Risiko weiterhin ein. Wir selbst können uns mit ihren Forderungen identifizieren.

Die Menschen in den arabischen Ländern müssen selbst über ihre Zukunft entscheiden können. Was wir aber dazu beitragen können, um ihnen ein Leben und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zu ermöglichen, dürfen wir nicht unversucht lassen. Wir sollen die beschriebenen Entwicklungen als Chance verstehen und uns nicht vor ihnen fürchten.

Mit der notwendigen Offenheit haben wir als Europäer die einmalige Chance, zu einem intensiven Austausch mit dem Nahen Osten. Es darf dabei nicht nur um wirtschaftliche und geostrategische Interessen gehen. Wir können und sollten auch die breite Palette der kulturellen und zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten nutzen, die nachbarschaftlichen Beziehungen auszubauen und zu vertiefen.

Europa steht hierbei jedoch vor dem Dilemma, dass im Vergleich zur Revolution der Jahre 1989/90 in Osteuropa die Forderungen an uns ungleich größer sind, wir jedoch weitaus weniger Mittel zur Unterstützung der demokratischen Prozesse aufbieten können. Der Anreiz auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union war ein wesentlicher Pfeiler der stabilen und nachhaltig demokratischen Entwicklung in Osteuropa. Dieses Angebot steht uns jetzt nicht zur Verfügung.

Unlängst hat der von der Hamas gefangen gehaltene Soldat Gilad Shalit nach fünf Jahren die Freiheit wiedererlangt. Der Druck der arabischen Straße hat auf die israelische und palästinensische Seite endlich den notwendigen politischen Willen befördert, in dieser Frage zu einer Einigung zu kommen Dank hartnäckiger europäischer Diplomatie ist vor dem Hintergrund der Bewerbung Palästinas um eine staatliche Anerkennung bei den Vereinten Nationen wieder ein Prozess in Gang gekommen. Ob er den Namen Friedensprozess verdient, bleibt abzuwarten.

Israel sollte jetzt seine Blockade-Politik gegenüber dem Gaza-Streifen beenden. Die Geiselhaft Shalits war das wesentliche Argument dafür, den Gaza-Streifen abzuriegeln. Shalit ist jetzt frei. Das sollte Grund genug sein, die Kontrollen nur noch darauf zu konzentrieren, dass keine Waffen mehr in den Gaza-Streifen gelangen.