Ruprecht Polenz spricht im Plenum zur "Lage in der Türkei"
Ruprecht Polenz (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einer Vorbemerkung beginnen. Heute Morgen konnte man in den Zeitungen lesen, dass der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Volker Perthes, im Hinblick auf Syrien davor warnt, dass dort Zustände wie in Somalia eintreten könnten. Analysten, die sich mit der Region beschäftigen, sehen ein Zerbrechen der ‑ in Anführungszeichen ‑ „Ordnung“, die nach dem Ersten Weltkrieg ausgehend vom Sykes-Picot-Abkommen von 1916 entstanden ist und die wir auf der Landkarte an den wie mit dem Lineal gezogenen Grenzen erkennen können. Diese Grenzen sind natürlich nicht gut; sie sind aber - da sind sich bisher alle einig - besser als Grenzen, die infrage gestellt Sind. Wir stehen jetzt vor der Situation, dass möglicherweise Syrien zerbricht, der Irak seine staatliche Einheit nicht wirklich wiederfindet und der Libanon das gleiche Schicksal erleiden könnte. Auch Jordanien steht unter entsprechendem Druck.
In dieser Region ist die Türkei trotz aller Mängel, über die wir heute leider sprechen müssen, ein demokratischer stabiler Staat. Wir hoffen, dass die Türkei in der Lage sein wird, die rechtsstaatlichen Defizite, die in den Ereignissen der letzten Tage noch einmal sehr deutlich zutage getreten sind, zu überwinden. Diese Defizite sind, wie man in den Fortschrittsberichten der Europäischen Union immer wieder nachlesen konnte, auch struktureller Art.
Ich will eine zweite kurze Vorbemerkung machen: Wenn wir uns heute mit dieser Frage beschäftigen, dann ist das keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aus der Souveränität eines Staates folgt nicht, dass man die Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte nicht beachten müsse. Spätestens seit der Wiener Konferenz ist klar: Das geht uns alle an. ‑ Deshalb bringen wir das hier auch zur Sprache.
Im Falle der Türkei kommt hinzu, dass sie seit 1949 Mitglied im Europarat ist - übrigens ein Jahr länger als die Bundesrepublik Deutschland - und dass die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden will. Verhandelt wird seit 2005 mit dem Ziel des Beitritts. Die Türkei ist also aufgefordert - das haben die Vorredner zu Recht gesagt -, die Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Demonstrationsfreiheit zu respektieren. Angesichts der überharten Polizeieingriffe in den zurückliegenden Tagen muss man sagen: Das hat die Türkei nicht getan. ‑ Ich fordere dazu auf, diese Vorfälle zu untersuchen und die dafür Verantwortlichen auch zur Rechenschaft zu ziehen.
(Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wenn man sich anschaut, wie aus einem Protest im Zusammenhang mit einem sicherlich wichtigen zentralen Platz in Istanbul landesweite Proteste - jedenfalls in den Städten der Türkei - geworden sind, dann wird deutlich: Es geht auch noch um etwas anderes. Es geht darum, dass es in der Türkei eine wachsende Zivilgesellschaft gibt, die sich nicht bevormunden lassen möchte und die einen Teil der gegenwärtigen Regierungspraxis im Allgemeinen und des Ministerpräsidenten im Besonderen als genau diese Art der Bevormundung von oben herab empfindet und dagegen aufbegehrt. Es ist wichtig, das anzusprechen; denn wie wir diese ganze Entwicklung beurteilen, hängt damit wesentlich zusammen. Wenn es in der Türkei gelingen würde, dass alle Seiten aufeinander zugehen und man die demokratischen Grundtugenden Toleranz und Kompromissbereitschaft an den Tag legt, dann besteht die Chance, dass die türkische Demokratie aus dieser Situation gestärkt hervorgeht und dass Zivilgesellschaft und Staat einander in Zukunft stärker auf Augenhöhe begegnen, als das in der Vergangenheit der Fall war.
Was können wir tun? Ich denke, wir müssen den Prozess des EU-Beitritts neu beleben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Ich möchte hier ganz bewusst Kap. 23 ‑ Justiz und Grundrechte ‑ ansprechen. Dieses Kapitel wäre ideal geeignet, um gerade jetzt mit der Türkei über die notwendigen strukturellen Veränderungen zu sprechen, die in den Fortschrittsberichten der Europäischen Union immer wieder angemahnt worden sind. Dort ist zu Recht festgestellt worden, dass es beim Demonstrationsrecht und bei der Ahndung polizeilicher Übergriffe in der Vergangenheit keine wesentlichen Fortschritte gegeben habe; jetzt mussten wir erleben, was in den letzten Tagen geschehen ist. Die Verhandlungen über Kap. 23 werden gegenwärtig durch Zypern blockiert. Es liegt also an der Europäischen Union selbst, diese Blockade aufzuheben.
(Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Sagen Sie mal etwas zu den Gründen der Blockade! Die ist doch wohl begründet!)
Ich möchte dazu auffordern, auf Zypern in dieser Frage einzuwirken; denn das Kap. 23 wird allein von Zypern blockiert.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
In diesem Falle bestünde die Möglichkeit, auch institutionell - über das, was wir in dieser Aktuellen Stunde ansprechen, hinaus - nachhaltig auf die Türkei einzuwirken.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)