Ruprecht Polenz

Die aktuelle Russlandpolitik der Bundesregierung

Rede von Ruprecht Polenz im Deutschen Bundestag am 13. 11. 2003
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Bisher herrschte in der deutschen Russlandpolitik weitgehend Übereinstimmung. Wir wollten und wollen die Reformen dort, die Transformation zu Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft sowie zur Wahrung der Menschenrechte unterstützen, entsprechende Anstrengungen fördern und natürlich auch kritisieren, wenn von diesem Weg abgewichen wird. Vor diesem Hintergrund haben Sie, Herr Kollege Erler, die Frage gestellt, ob es angemessen sei, die Bundesregierung zu lauterem Reden aufzufordern. Es geht um die auffälligen Unterschiede in der Lautstärke bei dem, was die Bundesregierung macht. Denken Sie zum Beispiel an die Reaktionen auf die Entwicklung in Österreich und Italien. Zu den aktuellen Vorfällen in Russland stellen wir jetzt ein eher beredtes Schweigen fest; das kann ja einen eigenen Symbolgehalt bekommen. Dabei müssten wir gemeinsam Sorge um Russland haben; denn wenn ich die Debatte richtig verfolge, teilen auch Sie diese Einschätzung ein wenig. Herr Kollege Volmer, Sie haben gesagt, die Bundesregierung spreche die Fragen der Menschenrechtsverletzungen und der Demokratieentwicklung nicht offen, sondern eher diplomatisch an. Dann wäre es ein schönes diplomatisches Signal gewesen, das auch sicherlich registriert worden wäre, wenn die Bundesregierung diese Aktuelle Stunde zum Anlass genommen hätte, auf der Kabinettsbank entsprechend mit Ministern vertreten zu sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist sie doch! Herr Bury ist doch Staatsminister!)

Herr Kollege Erler, Sie haben die russischen Kollegen zitiert, die von drohenden Schauprozessen und von möglichen Entwicklungen hin zu einer Diktatur sprechen. Frau Kollegin Roth und Herr Kollege Bindig haben beide – dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken – klare und deutliche Worte zu den Menschenrechtsverletzungen und zur Lage in Tschetschenien sowie zu den Vorfällen um Chodorkowski gefunden. In diesem Punkt sind wir uns einig. Aber, Herr Bury, solche klaren Worte hätten wir gern von der Bundesregierung gehört. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stattdessen haben Sie davon gesprochen, dass Sie die Entwicklung aufmerksam beobachteten und ein rechtsstaatliches Verfahren erwarteten. Als hätte der bisherige Gang des Verfahrens nicht längst das Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit bewiesen! Dazu kein Wort von der Bundesregierung!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Unglaublich!)

Der liberale Politiker Boris Nemzow beschreibt die gegenwärtige Situation wie folgt: „Russland wird nur selten glücklich, aber wir hatten eine Chance. Jetzt verlieren wir sie.“ Was hätten unsere Kollegen wie Grigori Jawlinski, Nemzow oder Ryschkow gesagt, wenn sie Ihren Erklärungen heute hier im Deutschen Bundestag hätten zuhören können? Ich glaube, sie wären entsetzt und enttäuscht gewesen, weil sie sich von einem wichtigen Partner Russlands im Stich gelassen gefühlt hätten, der zu den Vorfällen, die sie bitter besorgt machen, einfach schweigt und eine so blasse und nichts sagende Erklärung abgibt, wie Sie es heute für die Bundesregierung getan haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Man muss die Besorgnis haben, dass es so etwas wie einen westlichen Deal, an dem ja nicht nur die Bundesregierung beteiligt ist, gibt, der besagt: Wir schweigen zur Entdemokratisierung Russlands, dafür garantiert Putin dort Stabilität. Wir kritisieren die Tschetschenienpolitik nicht länger, dafür macht Russland im Kampf gegen den internationalen Terrorismus mit. Wir sind Russland beim Zugang zu den globalen Wirtschaftsorganisationen behilflich, dafür können wir Öl und Gas importieren und in Sibirien investieren. Eine solche Rechnung würde aber nicht aufgehen, wenn man sie denn machte: Auf längere Sicht könnte der Westen bei einem Sieg der Silowiki nicht sicher sein, ob nicht der alte imperiale Staat, die alte aggressive, antiwestliche Supermacht, wiederbelebt würde. Dies sagt nicht jemand, der aus dem kalten Krieg übrig geblieben ist, sondern das hat unser Kollege Wladimir Ryschkow, Mitglied der Duma, in einem Interview der „Zeit“ zum Ausdruck gebracht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles sollten wir ernst nehmen. Deshalb ein paar ganz klare Forderungen zum Schluss: Leisetreterei hilft dem Westen nicht. Wir müssen für die Liberalisierer in Russland klar Partei ergreifen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Unsere Forderungen müssen lauten: wirklich freie Parlamentswahlen im Dezember, private Fernsehstationen, eine unabhängige Justiz, freies Unternehmertum, Bürgerrechtsvereinigungen und Zivilgesellschaft. Nicht Putin, meine Damen und Herren, sondern nur ein demokratischeres Russland kann auf Dauer Stabilität garantieren. Für diejenigen, die vor allem an Wirtschaftsfragen interessiert sind, füge ich hinzu: Nur ein demokratischeres Russland kann in Zukunft auch den steten Fluss von Öl und Erdgas garantieren. Diese Forderungen sind nicht weltfremde Illusionen, sondern echte Realpolitik im Interesse unseres Landes. Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)