Die schrecklichen Terroranschläge trafen unseren NATO-Partner Türkei. Gemeint war der Westen insgesamt. Statt der Synagogen Beth Israel und Neve Schalom in Istanbul hätten die Bomben auch Synagogen in Deutschland treffen können und Konsulate in München oder Hamburg.
Wie stark die Anschläge die Türkei erschüttert haben, zeigen Parallelen, die von den geschockten Türken selbst gezogen werden: Erst das schreckliche Erdbeben vor wenigen Jahren, dessen Folgen wir gerade überwinden, sagen sie, und jetzt das. Jetzt haben wir unseren 11. September.
Ziel der Al Qaida – Terroristen ist die politische Destabilisierung der Türkei. Es geht gegen die Freundschaft der Türkei mit Israel, gegen die Westorientierung der Türkei. Die Bomben zielen auf den säkularen Staat Türkei und sein Modell einer Trennung von Staat und islamischer Religion. Der Weg der Türkei in die Europäische Union soll gesprengt werden.
Das verlangt eine deutliche Antwort des Westens über die Verurteilung der Anschläge und das Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen hinaus. Gefordert ist ein klares Signal politischer Solidarität an die Türkei: Der Anschlag hat Euch getroffen, weil Ihr zum Westen steht – jetzt stehen wir zu Euch! Wir werden es gemeinsam nicht zulassen, dass die Terroristen die Welt in Muslime und Nichtmuslime auseinanderbomben! Wir stehen mit unseren muslimischen Freunden im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus zusammen!
Ob gewollt oder nicht: Die Haltung Deutschlands und der Europäer zum jahrzehntelang angestrebten und von der EU immer wieder in Aussicht gestellten Beitritt der Türkei zur Europäischen Union bekommt vor diesem Hintergrund eine besondere Bedeutung. Wer jetzt eine EU-Mitgliedschaft der Türkei prinzipiell - also ein für alle mal - ausschließt, muss wissen, dass er damit den Terroristen in die Hände arbeitet. Sie sind es, die nicht ertragen wollen, dass ein Staat mit muslimischer Bevölkerung sich fest und unauflöslich mit Europa verbindet und seine Staats- und Gesellschaftsordnung dem europäischen Modell von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft anpasst. Sie fürchten die Signalwirkung, die davon auf die gesamte islamische Welt ausgehen könnte.
Die Gründer der Europäischen Gemeinschaft hatten die Vision einer Friedensordnung, die jahrhunderte langes Blutvergießen auf dem europäischen Kontinent ein für alle Mal überwinden und künftige Kriege in Europa durch Integration und geteilte Souveränität unmöglich machen wollte.
Dies ist in den letzten 50 Jahren in beeindruckender Weise gelungen. Die jetzt bevorstehende EU-Erweiterungsrunde dehnt diese Friedensordnung auf die Staaten Mittel- und Osteuropas aus.
Im 21. Jahrhundert stehen wir vor der Herausforderung, die Konfrontation zwischen dem Islam und dem Westen zu überwinden. Europa kann hierzu einen beispielgebenden Beitrag leisten. Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei würde aller Welt deutlich machen: Europa will keinen Kampf der Kulturen; das europäische Modell von Rechtsstaat und Demokratie ist auch eine Perspektive für Länder mit muslimischer Bevölkerung; Europa bekämpft den islamistischen Terrorismus mit seinen muslimischen Verbündeten.
Es ist ein gefährlicher Irrtum zu glauben, man könne sich vor diesem Terrorismus schützen, indem man die Türkei aus Europa ausschließt. Das Terrorproblem wird durch einen EU-Beitritt der Türkei auch nicht importiert – so als sei Europa bislang von dieser Geisel verschont geblieben. Schließlich sind Deutschland, Großbritannien, Frankreich oder Italien schon längst nicht nur Ruheraum sondern auch Zielscheibe der islamistischen Terroristen. In Deutschland wurde der 11. September vorbereitet und der Anschlag auf den Strassburger Weihnachtsmarkt vereitelt.
Es geht auch nicht darum, jetzt im Licht der Terroranschläge die Beitrittsfrage zu beschleunigen. Der Fahrplan für den EU-Beitritt der Türkei sollte wegen der Terroranschläge nicht geändert werden. Aber man darf auch keine Zweifel an diesem Fahrplan und seinem Ziel aufkommen lassen. Es darf kein Zurückweichen vor dem Terrorismus geben, deshalb also auch keine Politik, die als solche verstanden werden könnte.
Auch die Türkei muss wie alle anderen Beitrittskandidaten die Kopenhagener Kriterien erfüllen, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Minderheitenschutz, wettbewerbsfähige Marktwirtschaft. Ob dies der Fall ist, wird die EU im Dezember 2004 feststellen. Wenn ja, werden 2005 konkrete Beitrittsverhandlungen beginnen, die kaum vor 2012 abgeschlossen sein dürften. Es liegt auch im deutschen und im europäischen Interesse, diesen Weg der Türkei zu unterstützen und ihr eine faire Chance zu geben.
Ruprecht Polenz ist ehemaliger Generalsekretär der CDU und Mitglied des auswärtigen Ausschusses