Ruprecht Polenz

Das faule Versprechen

Gehört die Türkei zu Europa? Je näher das Jahr 2005 rückt und damit ein möglicher Beginn von offiziellen Beitrittsverhandlungen mit der EU, desto heftiger werden die Stimmen, die diese Frage verneinen. Ganz so, als hätte es die Geschichte und die europäischen Zusagen der letzten vierzig Jahre nicht gegeben.
Am 12. September 1963 schloss die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit der Türkei ein Assoziierungsabkommen, das aus der Sicht beider Seiten in einem überschaubaren Zeitraum in eine Vollmitgliedschaft münden sollte. Daraus sind vierzig Jahre geworden. Während dieser Zeit hat die EU der Türkei immer wieder den Beitritt als Vollmitglied in Aussicht gestellt. Das gerade sei der Fehler gewesen, argumentieren die Beitrittsgegner. Es sei höchste Zeit, endlich „ehrlich“ mit der Türkei umzugehen, die weder geografisch noch historisch und kulturell schon gar nicht zu Europa gehöre.

Zwar liegen nur etwa fünf Prozent des türkischen Territoriums auf der „europäischen Seite“ des Bosporus. Aber das künftige EU-Mitglied Zypern ist von europäischen Ufern des Mittelmeers weiter entfernt als Ankara. Außerdem wird Europa heute nicht mehr in erster Linie geografisch begriffen, sondern als Gesamtheit seiner Werte, seiner rechtsstaatlichen und demokratischen Traditionen.

Historisch sei die „Abwehr der Türkengefahr“ identitätsstiftend für Europa gewesen, so die Gegner eines Türkeibeitritts zur EU. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Das Osmanische Reich war seit dem 16. Jahrhundert fester Bestandteil des europäischen Bündnissystems.

Die politische, wirtschaftliche und kulturelle Westorientierung gehört zur Staatsräson der Türkei. Sie ist Gründungsmitglied des Europarats und gehört der OSZE an. Im Sport nimmt sie an Europameisterschaften teil; Galataseray Istanbul spielt in der europäischen Champions-League. Beim Grand Prix d’Eurovision siegte in diesem Jahr eine türkische Sängerin. Die Türkei ist seit Jahrzehnten verlässliches Mitglied der Nato, die sich ja nicht nur als Verteidigungsbündnis sondern auch als Werte- und Schicksalsgemeinschaft versteht.

Für die prinzipiellen Gegner einer EU-Mitgliedschaft der Türkei zählt das alles nicht. Die Türkei gehöre zu einem anderen Kulturkreis, sei nicht wie die europäischen Länder geprägt von jüdisch-griechisch-römischer Antike, Christentum, Renaissance und Aufklärung. Aber die europäische Kultur hat ihre Wurzeln auch in Kleinasien. Hier lebte Herodot, hier lehrte Thales von Milet, hier entstand der ionische Baustil, der die abendländische Baugeschichte beeinflusst hat. Auf dem Boden der heutigen Türkei befinden sich die ältesten christlichen Gemeinden außerhalb Jerusalems. Der Apostel Paulus schickte seine Briefe nach Ephesus. Anatolien war die Brücke des Christentums von den Heiligen Stätten seines Ursprungs nach Europa. So wie Spanien auch sein islamisches Erbe in die EU mitgebracht hat, kann die Türkei ihr christliches Erbe in die EU einbringen. Aber weil die Türkei heute ein Staat mit moslemischer Bevölkerung ist, kann es für viele nicht zum „christlichen Abendland“, zu Europa gehören.

In der heutigen EU leben aber bereits 13 Millionen Muslime, davon 3,2 Millionen in Deutschland. Jedes zehnte Schulkind zwischen Passau und Kiel ist Moslem oder Muslima. Auch unabhängig von der (steigenden) Zahl Konfessionsloser lässt sich Europa heute nicht in der Weise als christliches Abendland bezeichnen wie vielleicht in früheren Jahrhunderten.

Hinzu kommt: Im Stabilitätspakt für den Balkan wurde Albanien und Bosnien-Herzegowina – also Staaten, die zu Europa gehören und deren Bevölkerungsmehrheit moslemisch ist – eine Vollmitgliedschaft in der EU in Aussicht gestellt. Das seien kleinere Länder, heißt es dann. Die Türkei jedoch werde mit ihrem „explosiven Bevölkerungswachstum“ bald 100 Millionen Einwohner haben und damit das größte Land in der EU sein. Die Wirtschaftsleistung der Türkei liege unter dem europäischen Durchschnitt. Die EU werde 40 Milliarden jährlich in die Türkei zu überweisen haben, davon Deutschland den Löwenanteil. Es werde eine „menschliche Expansion in die bisherigen Mitgliedsländer“ geben. Mit den eingewanderten Türken sei keine Integration möglich.

Transitland für Öl und Gas

In Wirklichkeit wächst die türkische Bevölkerung weniger stark als in manchen Horrorszenarien behauptet. Die Wachstumsrate ist von 2,5 Prozent in den Achtziger Jahren auf etwa 1,6 Prozent gesunken. Die Türkei wird damit im Jahr 2010 voraussichtlich 78,5 Millionen Einwohner haben. Zwischen 1964 und 1997 sind etwa 2,2 Millionen Menschen aus dem Bundesgebiet in die Türkei zurückgekehrt. Auch die Türkei geht davon aus, dass nach einem EU-Beitritt für die Freizügigkeit längere Übergangsfristen gelten werden.

Derzeit würde die Wirtschaft der Türkei dem Wettbewerbsdruck in der EU noch nicht standhalten. Aber das ist kein Grund, sich den Blick auf ihre Zukunftsperspektiven durch Schreckenszahlen verstellen zu lassen. Die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen für eine positive Wirtschaftsentwicklung der Türkei sind günstig. Starke Familienstrukturen, Kreativität und eine ausgeprägte Dienstleistungsmentalität versprechen wirtschaftliche Dynamik, von der die EU profitieren dürfte. Als Transitland für Öl und Gas aus Zentralasien gewinnt die Türkei für die europäische Energieversorgung im 21. Jahrhundert strategische Bedeutung. Über den Finanzrahmen der EU von 2014 bis 2020 kann derzeit nicht einmal spekuliert werden, ist doch der Planungszeitraum von 2007 bis 2013 noch gar nicht festgelegt.

Und bei allen Mängeln der bisherigen Integrationsgeschichte: Eine endgültige Zurückweisung der Türkei durch die EU würde die Integration der bei uns lebenden Türken nicht erleichtern: „Die Türkei soll nicht zu Europa gehören, also wollt ihr uns auch nicht haben“, so würde die Botschaft verstanden – und so ist sie von manchen Beitrittsgegnern auch gemeint.

Soll denn die EU künftig an Länder wie Iran, Irak, Armenien oder Georgien angrenzen, fragen manche besorgt. Die Gegenfrage: Will die EU der Türkei die Rolle eines Pufferstaates zumuten? Die Bündnis- und Beistandsgrenzen der Nato verlaufen schon seit Gründung der Allianz exakt dort. Und im Hinblick auf die Sicherung der EU-Außengrenzen darf man der Türkei sicher genauso viel zutrauen wie Polen oder Rumänien. Auf dem Gebiet der äußeren Sicherheit hat der Einsatz der Türkei bei Kfor im Kosovo und bei Isaf in Afghanistan die europäische Handlungsfähigkeit übrigens nicht geschwächt sondern gestärkt.

Wo sollen überhaupt die Grenzen der EU liegen, wenn sogar die Türkei dazu gehört? Dann müssten auch Länder wie Russland, Israel oder Marokko aufgenommen werden. Eine derart grenzenlose EU werde an „Overstretch“ zu Grunde gehen. Aber keinem dieser Länder hat die EU so oft und so lange eine konkrete Beitrittsperspektive in Aussicht gestellt. Die EU bleibt diesen Ländern gegenüber auch nach einem Beitritt der Türkei frei in ihren Entscheidungen.

Aber mit der Türkei werde die EU ihre Identität verändern. Der Integrationsweg zu einer politischen Union werde unwiderruflich aufgegeben, die Rückentwicklung zu einer Freihandelszone sei vorprogrammiert, die Handlungsfähigkeit der EU bedroht. Als Beleg für diese These wird der gegenwärtige Zustand angeführt. Das Defizit ist also nicht der Türkei anzulasten, sondern muss sowieso viel eher und unabhängig von einem Beitritt der Türkei behoben werden, wenn die EU handlungsfähig bleiben will.

Moslemische Verbündete

Die Rechtspolitik muss oft dafür herhalten, dass mit der (moslemischen) Türkei europäische Integration nicht möglich sei, ganz so, als stünde die Türkei vor Einführung der Scharia. Aber in der Türkei sind Staat und Religion getrennt. Die Republik hatte schon früh das Strafrecht von Italien, das Zivilrecht von der Schweiz und das Handelsrecht aus Deutschland übernommen. Mit den Verfassungsreformen der jüngsten Zeit und vielen Gesetzesänderungen hat Ankara die Todesstrafe abgeschafft, die jahrzehntelang unterdrückte kurdische Sprache zugelassen, Minderheitenschutz und Meinungsfreiheit verbessert, die Anti-Terror-Gesetze entschärft und die Macht des Militärs begrenzt. Die rechtliche Stellung der Frau mag zwar noch nicht dem EU-Standard entsprechen. Aber immerhin hat die Türkei bereits 1934 das Frauenwahlrecht eingeführt, früher als einige europäische Länder. Außerdem setzt ein EU-Beitritt voraus, dass die Türkei zuvor alle Rechtsvorschriften der EU übernommen hat.

In einem von dem niederländischen Christdemokraten Arie M. Oostlander verfassten Bericht hält das Europäische Parlament im Juni 2003 fest, dass die universellen politischen und kulturellen Werte der EU „sehr wohl von einem Land mit überwiegend moslemischer Bevölkerung akzeptiert und verteidigt werden können.“ Das Parlament „ist daher der Auffassung, dass der EU-Mitgliedschaft grundsätzlich nichts entgegensteht.“

Europa ist nicht durch seine Geschichte determiniert. Europa ist das, was die Europäer daraus machen wollen. Die Gründer der Europäischen Gemeinschaft hatten die Vision einer Friedensordnung, die jahrhundertelanges Blutvergießen auf dem europäischen Kontinent überwinden und künftige Kriege in Europa durch Integration und geteilte Souveränität unmöglich machen sollte. Dies ist in den vergangenen 50 Jahren in beeindruckender Weise gelungen. Die bevorstehende EU-Erweiterungsrunde dehnt diese Friedensordnung auf die Staaten Mittel- und Osteuropas aus.

Im 21. Jahrhundert stehen wir vor der Herausforderung, die Konfrontation zwischen dem Islam und dem Westen zu überwinden. Europa kann hierzu einen beispielgebenden Beitrag leisten. Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei würde aller Welt deutlich machen: Europa will keinen Kampf der Kulturen; das europäische Modell von Rechtsstaat und Demokratie ist auch eine Perspektive für Länder mit moslemischer Bevölkerung; Europa bekämpft den islamistischen Terrorismus mit seinen moslemischen Verbündeten.

Auch die Türkei muss wie alle anderen Beitrittskandidaten die Kopenhagener Kriterien erfüllen, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Minderheitenschutz, wettbewerbsfähige Marktwirtschaft. Ob dies der Fall ist, wird die EU im Dezember 2004 feststellen. Wenn ja, werden 2005 konkrete Beitrittsverhandlungen beginnen, die kaum vor 2012 abgeschlossen sein dürften. Es liegt im deutschen und im europäischen Interesse, diesen Weg der Türkei zu unterstützen und ihr eine faire Chance zu geben.

Ruprecht Polenz ist ehemaliger Generalsekretär der CDU und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses.