Ruprecht Polenz

Offene Fragen zwischen USA und Europa rechtzeitig ansprechen

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren,

dies ist meine erste Teilnahme an einer Parlamentarischen Versammlung der NATO. Wir haben in den vergangenen Tagen gemeinsam einen Beitrag geleistet, um die Risse zu überbrücken, die der Irak-Krieg im Bündnis verursacht hat. Sie, Herr Präsident, haben mit Ihrer Verhandlungsführung und Ihrer heutigen Rede einen großen Beitrag dazu geleistet, wofür ich mich herzlich bedanken möchte. Aber auch viele andere Beiträge der vergangenen Tage haben deutlich gemacht, dass wir jetzt gemeinsam nach vorne blicken.
Wir sollten uns als Parlamentarische Versammlung der NATO als ein Forum verstehen, dass nicht nur reagiert, sondern offene Fragen rechtzeitig anspricht, um bereits das Entstehen von solchen Spannungen und Rissen zu verhindern.

Zwei solcher offenen Fragen möchte ich jetzt gerne erläutern:

Wir alle sind uns einig, dass die Bekämpfung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen allerhöchste Priorität haben muss. Diese Aufgabe steht meines Erachtens in einem tiefgreifenden Zielkonflikt mit einer Entscheidung der amerikanischen Regierung, Forschungsmittel für die Entwicklung sog. mini-nukes freizugeben. Ziel der Forschungsarbeiten an solchen „kleinen Atomwaffen“ ist es, tief in der Erde liegende und verbunkerte Anlagen zerstören zu können.

Aber, meine Damen und Herren, Nuklearwaffen sind strategische Waffen. Sie sind politische Waffen. Die Furcht vor ihrem Gebrauch hat in der Zeit des kalten Krieges eine stabilisierende Wirkung gehabt.

Die Entwicklung solcher mini-nukes wird die Grenzen von Nuklearwaffen und konventionellen Waffen verwischen, wenn nicht sogar aufheben. Auch andere Nuklearstaaten könnten in Zukunft an einer ähnlichen Forschung interessiert sein. Zu befürchten ist darüber hinaus aber auch, dass das Streben von bisher Nicht-Nuklearstaaten nach Atomwaffen zunehmen wird. Über diesen Zielkonflikt sollten wir bei unserem nächsten Treffen in Orlando sprechen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen zweiten Punkt nennen, dem wir uns rechtzeitig widmen sollten:

Wir sind uns auch darin einig, dass Verteidigung heute nicht mehr allein auf Abschreckung beruhen kann, weil Terroristen oder terroristische Staaten sich möglicherweise nicht abschrecken lassen. Hier ist also vorbeugendes Handeln notwendig. „Selbst zuschlagen, ehe man angegriffen wird“, so könnte man Überlegungen zusammenfassen, die in den USA zu dieser Frage angestellt werden. Ich glaube aber, dass man über diese Frage noch weiter und vertieft nachdenken muss. Es geht nämlich auch darum, dass Völkerrecht in diesem Bereich weiter zu entwickeln. Die Antwort, nach der wir gemeinsam suchen sollten, muss nämlich auch Bestand haben für alle anderen Staaten auf dieser Welt. Sie muss auch gültig sein beispielsweise für Indien und Pakistan und deren gegenseitige Bedrohungswahrnehmung.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.