Ruprecht Polenz

Bundesregierung ohne Reformkonzept - Der aktuelle Kommentar von Ruprecht Polenz

Die ökonomischen Daten zeigen auch zwei Jahre nach Verkündung der so genannten „Agenda 2010“ keinen Erfolg der Regierungspolitik; stattdessen verfestigen sich die Sorgen der Menschen über die Zustände in Deutschland zunehmend.
Der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Rürup, prognostiziert, dass im laufenden Jahr die Zahl der Arbeitslosen auch dann zunehmen werde, wenn man den statistischen Hartz-Effekt herausrechne. In 2005 drohten weitere 130.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze abgebaut zu werden (Berliner Zeitung 16.4.2005). Das Hauptproblem am deutschen Arbeitsmarkt besteht also im fortschreitenden Verlust regulärer Vollzeitjobs auf dem ersten Arbeitsmarkt. Als Antwort kündigt die Bundesregierung zum wiederholten Male eine Ausweitung von Programmen der Bundesanstalt für Arbeit an, mit denen jüngere und ältere Arbeitslose besser vermittelt werden sollen. Das geht am Kern der Schwierigkeiten vorbei.

Mit der schnellen und effektiven Einigung auf modifizierte Hinzuverdienstregelungen für Empfänger von Arbeitslosengeld-II kann der Übergang in eine begrenzte Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt auf der Basis von so genannten Mini- und Midi-Jobs erleichtert werden. Die übermäßige Ausweitung der 1-Euro-Jobs im zweiten Arbeitsmarkt hingegen lehnt die Union ab, weil sie zunehmend reguläre Beschäftigung verdrängt. „Für jeden Ein-Euro-Jobber geht auf dem ersten Arbeitsmarkt ein regulärer Arbeitsplatz verloren. […] Die Ein-Euro-Jobber lösen das Problem der Arbeitslosigkeit nicht, sie tarnen es lediglich.“ – so Stephan Schwarz, Präsident der Handwerkskammer Berlin (Tagesspiegel 19.4.2005).

Das Bundeskabinett hat letzte Woche für 2005 erneut eine „Nullrunde“ für die Rentner beschließen müssen. Dennoch drohen vorgezogene Bundeszuschüsse in die Rentenversicherung und eventuell auch eine ausgeweitete Kreditaufnahme. Beitragsstabilität wird mittelfristig durch die rot-grüne Ausgestaltung des Nachhaltigkeitsfaktors nicht gewährleistet. Mit weiteren Notmaßahmen ist zu rechnen, die jüngste Rentenreform der Bundesregierung beginnt, bereits nach kurzer Zeit ihre Unzulänglichkeiten zu zeigen – wie schon die vorhergehenden rot-grünen Stabilisierungsversuche.

In der Diskussion um den Armutsbericht der Bundesregierung muss sich Sozialministerin Schmidt schwere Kritik von den Wohlfahrtsverbänden anhören: „… es hat alles nicht gereicht“; „… eine Zerreißprobe für unsere Gesellschaft“; „keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema …“ (FR 12.4.2005).

Die aktuellen Äußerungen des SPD-Vorsitzenden Müntefering zeigen, dass er angesichts der eine Million Arbeitslosen in NRW und fünf Millionen Arbeitslosen in ganz Deutschland versucht, von der Realität abzulenken. Die Menschen jedoch wollen eine glaubwürdige Politik – und die sieht anders aus. Dies werden wir im Wahlkampf bis zum 22. Mai mit unseren Konzepten deutlich machen.

• Neue Schulden statt Haushaltsdisziplin: Nach der Voraussage der EU-Kommission, dass Deutschland die 3%-Grenze bei der Neuverschuldung auch in 2005 nicht werde einhalten können, weist nun die Bundesbank auf den ungebrochenen Schuldenkurs in Deutschland hin: „Die öffentlichen Finanzen sind in einer kritischen Lage“. Sie kritisiert scharf die Aufweichung der Maastricht-Kriterien: „Mit den neuen Regelungen wird der Stabilitäts- und Wachstumspakt […] entscheidend geschwächt. Der eingeschlagene Weg, die Haushaltsregeln einem gelockerten Finanzgebaren anzupassen, führt […] in die falsche Richtung.“ (Monatsbericht April 2005). Trotz vorhergehender Zusage, mit Sparmaßnahmen die Neuverschuldung auf ein zulässiges Maß zu drücken, kündigt der Bundesfinanzminister jetzt an, wegen des schwachen Wachstums keine weiteren Sparanstrengungen zu unternehmen.

• Dauerstreit statt klare Linie: In der Außen- und Sicherheitspolitik halten die Differenzen zwischen Rot und Grün und auch zwischen den Regierungsparteien und ihren Regierungsmitgliedern an:
In der Frage des Waffenembargos folgt die SPD-Fraktion dem Bundeskanzler nicht, die Grünen stehen offen dagegen, der Außenminister laviert einflusslos, während Gerhard Schröder mit falschen Bündnissen und aus kurzsichtigen Motiven heraus deutsche Interessen schädigt.
In der Frage deutscher Entwicklungshilfe macht der deutsche UN-Botschafter in New York große Versprechungen, während der Finanzminister zuhause einen grundsätzlichen Finanzierungsvorbehalt erhebt, was angesichts der Haushaltslage einer Absage gleichkommt.
In der Wehrpflichtfrage werden fortdauernde Streitigkeiten zwischen den Ministern Struck und Fischer gemeldet. Die Einladungspolitik des Bundeskanzlers auf der Hannovermesse, zu der der russische Präsident Putin den umstrittenen stellvertretenden tschetschenischen Ministerpräsidenten Kadyrow mitbringen durfte, stößt auf Kritik auch bei der SPD-Bundestagsfraktion.
Als neuestes Beispiel vollziehen die Grünen beim MEADS-Projekt einen gewagten politischen Spagat, indem sie im Bundestag je nach Interpretationsweise zustimmend ablehnen bzw. ablehnend zustimmen, jedenfalls im Ergebnis ihre Grundsätze beiseite legen und der SPD folgen, während die Grünen in NRW das Nachsehen haben.

Was macht Rot-Grün?

• Verlässt Lafontaine die SPD? Oskar Lafontaine könnte der erste ehemalige SPD-Vorsitzende sein, der seine Partei aus Protest verlässt. Ottmar Schreier, Vorsitzender der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, ist jedenfalls sicher: „Es steht wohl fest, dass Oskar Lafontaine Ende Mai, nach der Landtagswahl in NRW, aus der SPD austreten wird.“ (Leipziger Volkszeitung 15.4.2005) Auch Schreiner selbst scheint mit dem Gedanken an einen Partei-Austritt zu spielen: Genau wie Lafontaine hat er jedenfalls eine aus dem Umfeld der neuen Linkspartei „Wahlalternative“ initiierte Resolution gegen „Hartz IV“ unterzeichnet (FAZ 14.4.2005).

• Kabinetts-Konflikt um Entwicklungshilfe: Im Bemühen um einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat macht die Bundesregierung das, was sie am besten kann – nämlich haltlose Versprechungen. In der UNO-Vollversammlung stellte der deutsche Botschafter Gunter Pleuger die Steigerung der deutschen Entwicklungshilfe von derzeit 0,28% auf 0,7% des BIP im Jahr 2015 in Aussicht. Damit müsste Deutschland in den nächsten zehn Jahren rund 45 Milliarden Euro mehr ausgeben als bislang eingeplant (Spiegel 16/2005). „Die Zusage hat Herr Pleuger auf eigene Rechnung gemacht“, stellt der Bundesfinanzminister dazu klar; wenn zusätzliche Mittel gebraucht würden, müssten neue Finanzierungsquellen gesucht werden. Hans Eichel denkt dabei offenbar unter anderem an die Besteuerung von Flugbenzin (SZ 18.4.2005).

• Debatte um Religionsunterricht: Berliner SPD im Abseits. Mit ihrer Politik der Verdrängung des Religionsunterrichts gerät die Berliner SPD mit dem Regierenden Bürgermeister Wowereit zusehends in die Isolation. Die Mehrheit der Berliner Bürger lehnt die bildungspolitischen Pläne von Rot-Rot ab: Laut einer Forsa-Umfrage plädieren 56% für das auch von den Kirchen geforderte Modell eines Wahlpflichtfachs; nur 39 Prozent befürworten dagegen den von SPD und PDS geplanten für alle verbindlichen gemeinsamen Werteunterricht ohne Wahlalternative. Auch bei SPD-Anhängern ergibt sich eine knappe Mehrheit zugunsten des Wahl-Modells (Berliner Zeitung 18.4.2005). Zwar hat sich die Führung der Bundes-SPD von Franz Münterfering über Wolfgang Thierse bis hin zu Gerhard Schröder ebenfalls gegen den Beschluss ausgesprochen. Allein: Durchsetzungsfähig scheinen die Spitzengenossen nicht zu sein. Denn der Berliner SPD-Chef Michael Müller bleibt bei seiner Linie und kontert an die Adresse der parteiinternen Kritiker: „Offensichtlich sind viele in der SPD nicht ausreichend informiert.“ (Berliner Morgenpost 14.4.2005). Wenn Kanzler und Co. so wenig Autorität genießen, dürfte von ihnen außer Lippenbekenntnissen zum Religionsunterricht nicht viel zu erwarten sein.