Ruprecht Polenz

"Herr Erdogan arbeitet nicht gegen uns" - Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 15. Februar 2008 mit Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble

Im SZ-Interview verteidigt Innenminister Wolfgang Schäuble den türkischen Premier und wirbt für vielfältige Kontakte zu ausländischen Bürgern
SZ: Herr Schäuble, will der türkische Ministerpräsident in Deutschland mitregieren?

Schäuble: Ich glaube nicht, dass er sich um eine Mitgliedschaft in der Bundesregierung bewerben möchte. Er scheint mit seinem Amt ganz zufrieden. Aber im Ernst: Ich bin am Tag, nach dem in Ludwigshafen die Katastrophe passierte, bei ihm gewesen. Ich habe ihm gesagt, dass wir genauso betroffen darüber sind wie er. Er hat das verstanden. Ich habe keinen Grund zu klagen.

SZ: Erwin Huber will die EU-Beitrittsverhandlungen gleich mal aussetzen.

Schäuble: Wir haben immer gesagt, dass die Integration ganz unabhängig von einem möglichen. EU-Beitritt gelingen muss. Das darf man nicht vermengen. Außerdem muss man sehen, wie Erdogan in Ludwigshafen die Menschen beruhigt hat. Das war außerordentlich hilfreich. Dass er in der Köln- Arena zu Landsleuten sprechen wollte, entspricht der Offenheit unserer Demokratie. Mich kann das nicht aufregen.

SZ: Viele haben aggressiv auf die Rede reagiert. Haben die den Satz von der "Assimilierung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit" falsch verstanden?

Schäuble: In der deutschen Begrifflichkeit würde der Satz nur Sinn machen, wenn Erdogan Zwangsassimilierung gesagt hätte. Und davon kann in Deutschland nun wahrlich nicht die Rede sein. Insofern sind wir von diesem Satz nicht betroffen und sollten uns nicht so aufregen.

SZ: Haben Sie einen neuen Freund? Schäuble: Nein. Aber wichtig ist doch, dass der türkische Ministerpräsident seinen Landsleuten, die durch unverantwortliche Aufmacher in türkischen Medien verunsichert sind, gesagt hat, sie könnten den deutschen Behörden vertrauen. Damit hat er einen großen Beitrag zur Deeskalation geleistet.

SZ: Sie sehen in seiner Botschaft -Integration ja, Assimilation auf keinen Fall kein Doppelspiel?

Schäuble: In Beziehungen zwischen Regierungen ist es immer günstig, wenn man höflich miteinander umgeht. Im Übrigen ist klar: Wir machen die Politik in Deutschland und niemand sonst. So hat sich der türkische Ministerpräsident Erdogan nicht erst bei diesem Besuch dafür eingesetzt, dass seine Landsleute Deutsch lernen und sich hier integrieren sollen. Er arbeitet nicht gegen uns. Er hat gemeint, dass man nicht gezwungen werden dürfe, seine Kultur und Identität aufzugeben. Damit hat er völlig recht. Wir treten auch für den Schutz von kulturellen Minderheiten ein.

SZ: Würden Sie den Türken am liebsten mehr Rechte geben, zum Beispiel die doppelte Staatsbürgerschaft?

Schäuble: Genau das wäre falsch, weil es integrationsfeindlich wäre. Auch wenn Erdogan da ganz anderer Meinung ist. Wenn wir eines aus der Debatte lernen, dann dass dieses Nein richtig war. Wir können den Menschen, die mit ihren Kindern dauerhaft hier leben, die schwierige Entscheidung nicht abnehmen. Wollen sie Türken bleiben oder Deutsche werden - das müssen sie entscheiden.

SZ: Erdogan wurde in Köln wie ein Schutzherr gefeiert. Haben die Türken in Deutschland eine. Schutzmacht nötig?

Schäuble: Nein. Wo kämen wir da hin! Deutschland ist ein Rechtsstaat, der seine Bürger schützt. Dafür ist der Bundesinnenminister verantwortlich. Und der nimmt diese Aufgabe so ernst, dass sich weder der türkische Ministerpräsident noch sonst jemand Sorgen machen muss.

SZ: Ist Erdogan für Sie ein Islamist? Schäuble: In früheren Jahren gab es diesen Verdacht. Mein Eindruck ist, dass er von der Grundordnung der freiheitlichen Demokratie völlig überzeugt ist. Schauen Sie sich die türkische Debatte um das Ende des Kopftuchverbots für Studentinnen an. Ich habe ihm gesagt, das sei in Deutschland völlig unproblematisch. Entscheidend sei, dass die Lehrerinnen nicht mit Kopftuch kommen. Genau so hat die Türkei es dann beschlossen. Ich glaube, dass der Begriff Islamist in seinem Falle falsch verwendet wird. Er ist ein gläubiger Muslim. Und davor habe ich großen Respekt.

SZ: Der Christ Schäuble schwärmt über die islamisch-konservative Regierungspartei der Türkei. Was ist da los?

Schäuble: Ich schwärme nicht. Aber ich schaue genau hin. In der Türkei springt einem ins Auge, dass das Land viel entwickelter und moderner ist, als viele Menschen hier glauben. Wir täuschen uns, wenn wir uns allein von der Begegnung mit türkischen Menschen hierzulande leiten lassen. Erdogan ist auf dem Weg der Modernisierung ausgesprochen erfolgreich.

SZ: Er hat im Kanzleramt vor Ghettoisierung gewarnt. Dabei spiele Angst eine große Rolle. Was tut man dagegen?

Schäuble: Angst entsteht dort, wo man nichts Genaues weiß, aber viel vermutet oder befürchtet. Also kann die Konsequenz nur sein: Gespräche führen, Fra-

gen beantworten, Unwissenheit bekämpfen. In Schulen, Sportvereinen, Jugendheimen. Und eines kommt dazu: Integrationsprobleme gibt es viel häufiger in bildungsfernen, sozial schwachen Kreisen. Dass die eher die Neigung haben, sich aneinander festzuhalten und abzuschotten, ist wahr.

SZ: Viele Eltern verlassen Viertel wie Berlin-Kreuzberg, wenn ihre Kinder in die Schule kommen. Muss man nicht viel mehr Geld in gute Schulen stecken, um die Ghettobildung zu verhindern?

Schäuble: Gute Schulen sind wichtig. Aber: Für gute Schulen sind die Länder, nicht der Bund zuständig. Außerdem muss man sehr aufpassen. Wenn wir jetzt sagen würden: Viel Geld in die Problemschulen, dann würde es sofort Ärger mit der Mehrheitsgesellschaft geben. Wir sind eine Gesellschaft, in der man schnell den Neid der Mehrheit auf die Minderheit provozieren kann. Also rate ich ab, die Debatte so zu führen. Gute Schulen ja, aber keine Übertreibungen.

SZ: Sie haben türkische Ermittler in Ludwigshafen zugelassen. Als in der Türkei ein deutscher Missionar ermordet wurde, schickten Sie niemand. Warum?

Schäuble: Es gibt keinerlei Anlass, an der Ernsthaftigkeit der Ermittlungen zu zweifeln. Der Mord an den Missionaren war nicht gegen Deutsche gerichtet, sondern gegen Christen. Das ist schlimm genug, aber wir sind nicht die Schutzmacht der Christen in aller Welt.

SZ: Sie wollen der Versöhner von Muslimen und Christen in Deutschland werden. Ist die Islamkonferenz mehr als ein Debattierclub?

Schäuble: Wir kommen voran. Hier entwickelt sich eine Streitkultur - zwischen den verschiedensten Menschen aus dem islamischen Kulturbereich. Zwischen Religiösen und Nicht-Religiösen. Und wir wollen erreichen, dass wir Grundlagen für die universitäre Ausbildung von Imamen und Religionslehrern schaffen. Dafür müssen Muslime aber akzeptieren, dass bei uns Religion und staatliche Ordnung getrennt sind.

SZ: Die extremistische Organisation MUH Görüs trägt kaum zur Integration bei. Manchmal bekommen türkische Eltern sogar vorgedruckte Entschuldigungen, mit denen sie ihre Kinder vom Sportunterricht fernhalten.

Schäuble: Milli Görüs ist ein Problem. Aber die Türkei hat mit denen noch mehr Probleme als wir. Wir verharmlosen das nicht, deswegen muss der Verfassungsschutz da genau hinschauen. Aber nicht alle bei Milli Görüs sind gleich. Deswegen dürfen bei der Islamkonferenz auch Leute mitmachen, die Kontakt dazu haben. Wir setzen da auf die erfolgreiche Formel: Wandel durch Annäherung.

SZ: Die Sicherheitsbehörden warnen davor, dass sich auch junge Türken von Agitatoren einspannen lassen für mögliche Terrorakte. Zerstört die Angst vor Terror Erfolge bei der Integration?

Schäuble: Nein. Aber die Terrorgefahr ist real. Wir arbeiten deshalb in der Islamkonferenz mit den Sicherheitsbehörden zusammen. Es gibt keinen Grund zu Pauschalverdächtigungen. Die erfolgreiche Abwehr von Gefahren gefährdet die Freiheit nicht. Sie macht Freiheit und Integration erst möglich. Da lasse ich mich von niemandem übertreffen.

SZ: Sie machen seit den 80er Jahren Politik. Die Union hat den Begriff Einwanderungsland bis in die jüngste Vergangenheit abgelehnt. Tragen nicht auch Sie Schuld an der Entwicklung?

Schäuble: Die Debatte, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, ödet mich an. Sie unterstellt, dass die, die das damals verneint haben, Idioten sind. Aber Einwanderungsländer sind nun mal Länder, die sich gezielt die Leute aussuchen, die sie haben wollen. Die Einwanderung nach Deutschland war nicht so.

SZ: Aber die Türken wurden doch gezielt angeworben.

Schäuble: Ja. Das war eine problematische Entscheidung, die wir heute nicht mehr so treffen würden. Wir haben zu einem bestimmten Zeitpunkt geringqualifizierte Arbeitskräfte ins Land geholt, weil wir zu wenig Männer hatten. Aber es bringt nichts, die Verantwortung für Versäumnisse hin und her zu schieben. Die erste Regierung, die sich ernsthaft drum kümmert, sind wir.

SZ: Nach dem Motto: Die Letzten werden die Ersten sein? Im Ernst: Was haben Sie aus Ihren Fehlern gelernt?

Schäuble: Ich habe das Problem in der Intensität früher nicht wahrgenommen. Die Dinge sind heute problematischer als vor 20 Jahren. In jeder Generation sind sie größer geworden. Man dachte, die Menschen gehen wieder nach Hause. Deswegen hat man die Kinder auch in ihrer Muttersprache unterrichtet.

SZ: Das ist genau das, was Erdogan jetzt will: Unterricht auf Türkisch.

Schäuble: Da muss man ganz klar sein. Eine faire Chance in Deutschland hat man nur, wenn man Deutsch kann. Deutsch als Fremdsprache ist in diesem Land einfach nur Quark. Türkisch als Zweitsprache - von mir aus.

SZ: Warum hat die Union besonders viele Probleme mit den Türken in Deutschland? Sie legen viel Wert auf die Familie, sie pflegen konservative Werte. Das wären doch ideale Wähler.

Schäuble: Wollen Sie einer Regierung unter einer CDU-Kanzlerin unterstellen, wir würden Menschen dann lieber integrieren, wenn sie die Union wählen?

SZ: Wir wundern uns nur, dass Sie kein Interesse an neuen Wählern haben.

Schäuble: Ich habe ein großes Interesse an den türkischen Menschen, weil es Mitbürger sind und weil es eine große Aufgabe ist, sie zu integrieren. Es geht nicht darum, dass sie CDU wählen. Sie sind Deutschland willkommen, egal, welche Partei sie wählen, egal ob sie strenge Muslime sind oder nicht.

SZ: Dieses Pathos glauben wir Ihnen nur, wenn Sie so auch bei der Jugendgewalt argumentieren: Ist Gewalt Gewalt oder eine Frage der Herkunft?

Schäuble: Wenn wir bei ausländischen Jugendlichen eine höhere Kriminalitätsrate haben, dann liegt das nicht daran, dass sie Ausländer sind, sondern daran, dass sie schlecht integriert sind.

SZ: Das hörte sich im hessischen Wahlkampf aber anders an.

Schäuble: Ich denke, dazu ist alles gesagt.

Interview: Stefan Braun und Annette Ramelsberger