Ruprecht Polenz

Forschung mit embryonalen Stammzellen in Deutschland - Standpunkt von Ruprecht Polenz

Am vergangenen Freitag, den 11. April, hat der Deutsche Bundestag mit klarer Mehrheit eine Änderung des Stammzellgesetzes verabschiedet. Auch ich habe für eine Verschiebung des Stichtages gestimmt. Unser Embryonenschutzgesetz verbietet zu Recht eine Embryonen verbrauchende Forschung. Darüber hinaus hat der Deutsche Bundestag im Jahre 2002 mit breiter Mehrheit - auch mit meiner Stimme– ein Gesetz beschlossen, mit dem verhindert werden soll, dass von Deutschland ein Anreiz zur Tötung von Embryonen durch die Stammzellenentnahme ausgeht. Gleichzeitig sollte durch das Gesetz die Arbeit an ethisch hochwertigen Forschungsprojekten, insbesondere für die Entwicklung neuer Therapien, ermöglicht werden.
Inzwischen hat sich jedoch die Zahl der vor dem 1. Januar 2002 hergestellten und für die Wissenschaft verfügbaren Zellen erheblich verringert, auch weil viele Stammzelllinien durch Verunreinigung unbrauchbar geworden sind. Folglich stehen der Wissenschaft immer weniger Zelllinien zur Forschung zur Verfügung.

Über eine einmalige Verschiebung des Stichtages auf den 1. Mai 2007 bleibt der Schutzmechanismus des Stammzellgesetzes erhalten. Gleichzeitig bleibt weiter gewährleistet, dass von Deutschland aus nicht die Gewinnung embryonaler Stammzellen oder eine Erzeugung von Embryonen zu diesem Zweck veranlasst wird. Andererseits ermöglicht es Wissenschaftlern, mit bereits existierenden Stammzellen, die andernfalls vernichtet würden, weiter zu forschen.

Die strenge Einzelfallprüfung, die die Seriosität der Forschung gewährleistet, gilt selbstverständlich weiter.

Sie können sich sicher sein, dass ich mir die Entscheidung in dieser Sache nicht einfach gemacht habe. Die Bundestagsfraktionen haben die Frage wegen der moralischen Dimension aus gutem Grund als höchstpersönliche Gewissensentscheidung angesehen. Entsprechend lag eine ganze Reihe von Gesetzentwürfen verschiedener Fraktionsmitglieder zu diesem Thema vor.

Ich bin schließlich zu der Überzeugung gelangt, dass die einmalige Verschiebung des Stichtages sowohl dem Embryonenschutz gerecht wird als auch die Notwendigkeit wissenschaftlicher Forschung und Weiterentwicklung berücksichtigt.

Ich teile hier die Auffassung des evangelischen Theologieprofessors Dr. Richard Schröder, die Sie im angefügten Interview aus "Die Welt" vom 11.4.2008 ausführlich dargelegt finden.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Ruprecht Polenz


"Fehlgeleitete Sentimentalität"
Der evangelische Theologe Richard Schröder verteidigt die Forschung an embryonalen Stammzellen - Für Verschiebung des Stichtags als Kompromiss

Als Mitglied im früheren Nationalen Ethikrat hat sich der Berliner Theologieprofessor Richard Schröder intensiv mit den ethischen Aspekten der Forschung an embryonalen Stammzellen befasst. Mit Schröder, der auch der Synode der EKD angehört und für die SPD in der frei gewählten DDR-Volkskammer sowie dem Deutschen Bundestag saß, sprach Matthias Kamann.

DIE WELT:
Herr Professor Schröder, warum debattieren die Deutschen so intensiv über Embryonen, die sich nicht im Mutterleib befinden?

Richard Schröder:
Eine große Rolle spielt die Nazi-Zeit, zumal die Selektion und die Menschenversuche. Daher möchte man sich bei Embryonen eine Sicherheit schaffen, die jeden Verdacht in Richtung Nazi-Zeit ausschließt. Seltsamerweise soll diese Sicherheit ein naturalistisches Deutungselement schaffen.

DIE WELT:
Inwiefern?

Schröder:
Indem man sagt: Der Rechtsschutz der Menschenwürde beginne mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. So glaubt man auf der sicheren Seite zu sein, argumentiert aber naturalistisch, weil man die Sache an einem physischen Ereignis festmacht. Dann jedoch müsste man auch die künstliche Befruchtung verbieten.

DIE WELT:
Warum?

Schröder:
Weil sie faktisch unmöglich ist, ohne dass es immer mal wieder überzählige Embryonen gibt, die nicht mehr eingepflanzt werden können, was nach jener Logik heißt, dass man jene Embryonen unter Verstoß gegen ihre - angebliche - Menschenwürde tötet. Wer aber wie ich bei sonst kinderlosen Paaren die künstliche Befruchtung für legitim hält, muss über den Status der überzähligen Embryonen nachdenken und fragen, was mit denen geschehen soll. Dabei stellt man fest: Man kann sie nur tiefgekühlt lagern, wo sie nach etwa fünf Jahren degenerieren, oder direkt vernichten. Vom Schutz des Lebens vor verzweckender Forschung zu reden, aber Vernichten zu meinen, ist eine Verwirrung der Sprache.

DIE WELT:
Was sagt das Christentum hierzu?

Schröder:
In der Bibel wird die Frage nach dem Status des Ungeborenen nur ein Mal angesprochen. Im 2. Buch Moses wird eine Schadenersatzzahlung festgelegt, wenn jemand eine fremde Schwangere schlägt und es zur Fehlgeburt kommt. Den Schadenersatz erhält der Vater. Diese Stelle ist für unsere Frage unergiebig. Manche sagen, dass sich aus Worten wie "Du hast mich im Mutterleibe bereitet" oder "Du kanntest mich, ehe ich geboren war" etwas ableiten lasse.

DIE WELT:
Und was?

Schröder:
Genau besehen doch dies: dass ein geborener Mensch im Rückblick Gott schon bei seiner Entstehung am Werk sieht: "Du kanntest mich." Ich rekonstruiere meine Identität, indem ich auf etwas zurückblicke, woran ich mich nicht erinnern kann. Das Spezifische an der menschlichen Identität ist die Integration der Vorgeschichte in die Biografie - was freilich nur geht, wenn man eine Biografie hat. Wenn man nicht geboren wurde, geht das nicht.

DIE WELT:
Was haben die Kirchen später über den Embryo gesagt?

Schröder:
Man schloss sich der antiken Embryologie an, wonach es einen unbeseelten Status des Embryos bis etwa 30 Tage nach der Zeugung gebe. Diese Auffassung wird heute noch im Judentum und im Islam vertreten, weshalb es dort keine Bedenken gegen Stammzellenforschung gibt. Diese epigenetische Theorie hat die katholische Kirche um 1860 zugunsten der präformistischen Theorie aufgegeben. Man wusste aber auch damals noch nicht, dass es eine Verschmelzung von Ei- und Samenzelle gibt und dass sie im Eileiter stattfindet. Die christliche Tradition äußert sich nicht zum Status des Embryos außerhalb des Mutterleibs, weil man das Problem noch nicht kannte.

DIE WELT:
Kann man etwas aus der kirchlichen Abtreibungskritik ableiten?

Schröder:
Aber was? Bei der Abtreibung geht es um die aktive Verhinderung einer Geburt. Die Kirche will, dass man nicht handelt, denn wenn man nicht handelt, wird ein Mensch geboren. Das ist beim Embryo in der Petrischale umgekehrt. Da entsteht kein Mensch, wenn man nichts tut. Nein, man muss etwas tun, implantieren, damit ein Mensch geboren wird. Daher kann ich nicht verstehen, warum Protest gegen die Forschung an überzähligen Embryonen als "Lebensschutz" deklariert wird, als wolle jene Forschung eine Geburt oder schon die Implantation verhindern. Nein, die Implantation ist unmöglich - weil die Frau bereits schwanger ist oder krank oder nicht mehr will.

DIE WELT:
Und wenn eine andere Frau den Embryo austrägt, ihn adoptiert?

Schröder:
In den USA gibt es das ja. In einem Fall wurden acht Embryonen verbraucht, damit es bei einem klappte. Das lässt sich kaum als Lebensschutz bezeichnen. Bei uns ist es verboten, weil es zur Leihmutterschaft führt. Ich halte diese Adoption von Embryonen für fehlgeleitete Sentimentalität, die daraus resultiert, dass wir uns suggerieren, jene 0,1 Millimeter großen Gebilde seien Menschen im personalen Sinne.

DIE WELT:
Was sollten wir stattdessen sagen?

Schröder:
Die Bibel überrascht mit der Direktheit, mit der sie das Leben mit der Geburt beginnen und mit dem Tod enden lässt. Diese Zeitspanne ist der Ernstfall der menschlichen Existenz, für die wir vor Gott haften. Dem sollten wir Rechnung tragen, indem wir sagen, dass Träger der Menschenwürde jene sind, die geboren werden und geboren werden können. Daher gilt in Bezug auf die Embryonen in der Petrischale: Wenn sie keine Mutter finden, sind sie keine Menschen, die geboren werden können. Denn wir können nicht ohne Mutter geboren werden und wollen auch nicht, dass es ohne Mutter ginge. Einem Wesen aber, das nicht geboren werden kann, können wir nicht die Menschenwürde zusprechen.

DIE WELT:
Dammbruchargumente besagen, dass die Zerstörung von Embryonen einen respektlosen Umgang mit der Menschenwürde befördere.

Schröder:
Welcher Dammbruch? Seit der Renaissance ist das Öffnen von Leichen bestimmten Personen erlaubt, nämlich Anatomen, ohne dass deshalb die Menschen Leichenschändungen gut fänden. Ich sehe auch nicht, dass die Embryonenforschung den Respekt vor Behinderten sinken ließe. Die Sensibilität der Bevölkerung für die Behinderten und deren Probleme sind so hoch wie nie. Es ist nicht wahr, dass die Brutalität einzieht, wenn man an 0,1 Millimeter großen Gebilden forscht. Intuitiv weiß jeder, dass es zweierlei ist, ob jenes Gebilde in der Petrischale bleibt oder in den Mutterleib gelangt.

DIE WELT:
Was folgt daraus für die Debatte über den Stammzellenstichtag?

Schröder:
Aus meiner Position ergibt sich, dass die Herstellung von Stammzelllinien aus überzähligen Embryonen moralisch vertretbar ist. Das aber ist bei uns nicht konsensfähig. Wenn ich nun die Position derer übernehme, die sagen, dass von Deutschland kein Anreiz zur Zerstörung von Embryonen im Ausland ausgehen darf, dann ist die einfachste Lösung die Einzelfallprüfung. Bei jedem Importantrag würde überprüft, ob die betreffende Stammzelllinie tatsächlich unabhängig von deutschen Forschungsinteressen entstanden ist.

DIE WELT:
Also gar kein Stichtag?

Schröder:
Sie müssten den dann jedenfalls nicht verschieben, wobei niemand sagen kann, ob das die letzte Verschiebung war. Man kann zwar sagen: "Ich fahre nur Jahreswagen." Aber man kann schlecht sagen: "Ich fahre nur Autos, die vor 2007 hergestellt wurden."

DIE WELT:
Die Abschaffung des Stichtages ist aber auch nicht durchsetzbar.

Schröder:
Also plädiere ich für die Verschiebung des Stichtags als Kompromiss. Es ist im demokratischen Gemeinwesen allemal gut, nach konfliktvermeidenden und gewissensschonenden Lösungen zu suchen, auch wenn diese im Ergebnis inkonsistent sind. Schlecht fände ich es, wenn wir keine Verschiebung vornehmen, woraufhin die Forscher auswandern und Deutschland dereinst die Therapien übernimmt, deren Entwicklung wir zu Hause abgelehnt hatten.

Interview erschienen in "Die Welt" vom 11.4.2008
Autor: Matthias Kamann