Die EU sollte nach den Worten des CDU-Politikers Ruprecht Polenz im Kaukasus-Konflikt gegenüber Russland eine klare Linie verfolgen. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags sagte im Deutschlandfunk, beim EU-Gipfel am nächsten Montag müsse man Moskau deutlich machen, dass es sich international isoliert habe. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit sei nach der Anerkennung Südossetiens und Abchasiens durch Russland nicht mehr möglich.
Moderation: Bettina Klein
Bettina Klein: Während die Demokraten in Denver also versuchen, ihre Einigkeit zu zelebrieren, dürfte der außenpolitische Konflikt, über den wir seit Wochen sprechen und der gestern noch einmal eskaliert ist, eher die Republikaner stärken. Ein Parteifreund von John McCain jedenfalls regiert noch das ganze Jahr im Weißen Haus und er hat erneut auf das russische Vorgehen, nämlich die Anerkennung der Provinzen Südossetien und Abchasien gestern reagiert.
Über die Möglichkeiten des Westens, vor allen Dingen der Europäer und natürlich auch der Deutschen, in diesem Konflikt zu reagieren und Konsequenzen zu ziehen, möchte ich jetzt sprechen mit Ruprecht Polenz, CDU-Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Guten Morgen, Herr Polenz.
Ruprecht Polenz: Guten Morgen, Frau Klein.
Klein: Die Aussage des Westens lautet ja, wir müssen die territoriale Integrität Georgiens gewährleisten. Ich frage Sie: Wie will der Westen das tun? Haben Sie einen ganz praktischen Vorschlag?
Polenz: Zunächst einmal ist der Akt der einseitigen Anerkennung durch Moskau völkerrechtswidrig, aber er führt auch deshalb nicht dazu, dass Abchasien und Südossetien jetzt selbständige Staaten werden, weil es wahrscheinlich keine anderen Staaten auf der Welt geben wird, die diesem Beispiel folgen. Und erst wenn eine größere Zahl von Staaten Abchasien und Südossetien völkerrechtlich anerkennen würde, dann wären sie selbständige Völkerrechtssubjekte, dann wären sie Staaten. Außerhalb Russlands sehe ich im Augenblick keinen Staat, der diesen Schritt überlegen würde.
Klein: Wir wollen nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Dennoch geht es jetzt darum, dass der Westen sagt, wir wollen die territoriale Integrität Georgiens gewährleisten. Und ich frage Sie noch mal: Wie will der Westen das tun?
Polenz: Solange Abchasien und Südossetien nicht tatsächlich Völkerrechtssubjekte werden, ist völkerrechtlich Georgien in seinen Grenzen erhalten. Es übt nur wie auch seit 1992 die Souveränität nicht über alle Teile seines Gebietes in gleicher Weise aus. Was wir erreichen müssen ist, dass bei dem EU-Gipfel am kommenden Montag eine sehr klare Position Russland gegenüber eingenommen wird, die deutlich macht, dass Russland sich mit diesem Verhalten isoliert hat. Es muss doch auffallen, dass es kein Land auf der Welt bisher gibt, welches das russische Vorgehen unterstützt.
Klein: Die Einigkeit in der Europäischen Union ist ja bisher mitnichten vorhanden. Wie sehen Sie den Weg dahin? Bis Montag sind es noch wenige Tage.
Polenz: Ich glaube, die weiteren Schritte nach Ende der Kampfhandlungen, die Russland unternommen beziehungsweise nicht unternommen hat, was die Einhaltung des Waffenstillstandes angeht, werden es erleichtern, zu einer klaren Position zu kommen, denn es ist doch sehr deutlich geworden, dass die russische Politik darauf abzielt, Georgien weiter zu destabilisieren, zu einem Regierungswechsel, zu "Regime change" in Georgien zu kommen und eine moskaufreundliche, um nicht zu sagen moskauhörige Regierung an die Macht zu bringen.
Klein: Und wie kann die Stellungnahme der EU dann aussehen?
Polenz: Ich glaube, man wird diese Politik erkennen. Man wird diese Politik Russlands verurteilen und man wird Russland deutlich machen, dass zwar natürlich auch in Zukunft eine Zusammenarbeit mit Russland dort möglich ist, wo sich die Interessen zur Deckung bringen lassen, dass aber in all den Feldern, wo eine Zusammenarbeit von eins und eins mehr als zwei ausmacht, weil es Synergieeffekte gibt, die setzt Vertrauen voraus, die setzt ein gleiches Verständnis von Recht voraus, die setzt auch gemeinsame Werte voraus und das ist mit diesem Russland, so wie es sich zurzeit in Georgien benimmt, nicht möglich.
Klein: Aber im Kern lässt Europa Russland gewähren, weil eigentlich wirkliche Druckmittel ja nicht da sind?
Polenz: Russland macht im Augenblick den Eindruck, als könne es vor Kraft nicht laufen. Schauen Sie doch mal an die Moskauer Börse. Der Georgien-Konflikt und das russische Verhalten hat zu einem Abfluss von Kapital aus Russland von mehr als 15 Milliarden geführt. Die russischen Aktien an der Moskauer Börse fallen. Also der Kurs ist für den russischen Bürger, für diejenigen, die Aktienbesitz in Russland haben, schon sehr teuer.
Klein: Lassen Sie uns das Problem mal von einer anderen Seite betrachten, Herr Polenz. Die Südosseten jubeln, die Abchasen jubeln. Zwei kleine Regionen möchten gerne selbständig werden, unabhängig werden. Anders herum gefragt: Wer gibt eigentlich dem Westen das Recht, ihnen das zu verweigern?
Polenz: Zunächst einmal darf man nicht übersehen, dass Georgier, die in den Gebieten, vor allen Dingen in Südossetien gewohnt haben, sowohl in dem Krieg von 1990 bis 1992 von dort vertrieben worden sind als auch jetzt erneut. Wenn man über die Bevölkerung in diesen Gebieten spricht, muss man die Georgier, die dort ihre Heimat haben und jetzt dort nicht mehr leben können, mit dazurechnen. Zweitens: Das Recht auf Selbstbestimmung bedeutet nicht das Recht auf einen eigenen Staat. Das haben alle großen Länder, die ja meistens auch Vielvölkerstaaten sind, immer zurecht so gehalten, weil wir sonst in große Instabilitäten kämen. Denken Sie an Vielvölkerstaaten wie China, wie Indien, aber auch wie Russland selbst.
Klein: Und Moskau verweist nun eben auf das Kosovo als Präzedenzfall, der geschaffen wurde, und zwar auch vertreten eben von den Europäern. Weshalb soll für Südossetien und Abchasien nicht gelten, was für das Kosovo galt?
Polenz: Wenn Russland sich auf das Kosovo beruft, dann muss man fragen: Wo sind denn die UN-Bemühungen, unterstützt von Russland gewesen, um einen Konflikt zwischen Georgien, Abchasien und Südossetien zu schlichten, um zu Verhandlungen zu kommen? Das gab es beim Kosovo in den letzten zehn Jahren. Es gab einen UN-Sonderbeauftragten Artissari, dem früheren finnischen Präsidenten, der sich um eine Einigung zwischen Serben und Albanern bemüht hat. Es gab vielfältige Bemühungen, den Konflikt zu lösen, unter UN-Aufsicht. Alles das fehlt hier, ganz abgesehen davon, dass auch die Vorgeschichte, die zur Loslösung des Kosovo geführt hat, nämlich die Apartheitspolitik der Serben, der Völkermordversuch an den Albanern, das alles findet trotz der Kriege, die es zwischen Abchasen, Südosseten und Georgiern gegeben hat, auf dem Kaukasus keine Entsprechung. Das lässt sich nicht vergleichen. Und wenn die Russen jetzt einen Völkermord auf dem Kaukasus behaupten, dann sollte das schleunigst durch eine internationale Untersuchungskommission überprüft und gegebenenfalls verifiziert werden. Aber so weit ich sehen kann will Russland genau diese internationale Untersuchung der Vorwürfe nicht, die Russland gegen Georgien erhebt.
Klein: Medwedew sagte gestern, er habe keine Angst vor einem neuen Kalten Krieg. Haben Sie Angst?
Polenz: Es geht nicht um einen Kalten Krieg. Wir sind nicht mehr in der bipolaren Welt vor 1990. Aber es geht darum, dass Russland glaubt, wegen seiner militärischen Stärke, die sich im Kern auf die Nuklearstreitmacht bezieht, in seinem nahen Umfeld machen zu können was es will, dass es seinen Nachbarn nur begrenzte Souveränität zugestehen will, und das ist völkerrechtlich nicht akzeptabel. Die Ukraine, die Georgier und andere Staaten in der Nachbarschaft Russlands haben das souveräne Recht selbständiger Staaten, über ihre Politik zu entscheiden, und nicht die Verpflichtung, immer vorher in Moskau zu fragen.
Klein: Lassen Sie uns noch einen Blick in die Zukunft werfen. Sie haben gesagt, bisher bedeutet die alleinige Anerkennung Russlands nicht so viel. Was ist, wenn es in diese Richtung weitergeht? Verschiedene Szenarien wären denkbar. Das eine haben wir gerade gehört: Referenden, in denen die Abchasen und Südosseten ihren Wunsch bekunden, zu Russland zu gehören. Oder aber, dass andere Staaten sich Russlands Beispiel anschließen und die beiden Regionen eben auch anerkennen. Gibt es eigentlich Überlegungen, Planspiele in der EU, wie man reagiert, wenn es zum nächsten Schritt kommt?
Polenz: Man muss, glaube ich, unterscheiden. Bei Südossetien kann ich mir vorstellen, dass dort ein Anschluss an Russland von den jetzigen Machthabern gewünscht wird. Abchasien strebt, so wie ich das bisher beurteile, nach nationaler Unabhängigkeit. Russland hat diese Bestrebungen jetzt unterstützt, hat aber nach meiner Einschätzung nicht bedacht, welche Wirkung das auf die übrigen Völker des Kaukasus haben kann, die ja zu Russland gehören. Denken Sie an Tschetschenien. Den Wunsch nach Unabhängigkeit der Tschetschenen hat Russland in brutalster Weise unterdrückt. Ich bin gespannt, wie Russland mit dem Unabhängigkeitsstreben der eigenen Kaukasus-Völker in Zukunft umgehen wird.
Klein: Um aber noch mal bei diesen Beispielen zu bleiben. Würden Südossetien und Abchasien sich in irgendeiner Weise von Georgien losmachen, sei es selbst unabhängig werden oder sich Russland anschließen, wäre das kein großes Problem aus Ihrer Sicht?
Polenz: Doch. Es ist natürlich ein Problem, weil man solche Konflikte in einem politisch-diplomatischen Rahmen angehen muss. Sie sind schwer zu lösen. Das gebe ich zu. Und sie haben jahrhundertealte Wurzeln im Kaukasus. Die Stalinsche Nationalitätenpolitik spielt eine Rolle. Aber das ändert nichts an dem Punkt, dass Russland vor der Wahl steht, ob es, was für das eigene Land eigentlich sehr wichtig wäre, wirklich eine Modernisierungspartnerschaft mit der Europäischen Union will - dann muss es sich aber auch entsprechend internationalem Rechtsverständnis und europäischen Werten verhalten -, oder ob es allein auf Macht basiert seine Interessen durchsetzen will. Dann wird Deutschland, dann wird Europa auch nur auf der Basis von Interessenausgleich, da wo sich die Interessen zur Deckung bringen lassen, mit Russland zusammenarbeiten können. Das bleibt weit hinter den Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zurück und wird vor allen Dingen die wirtschaftliche und sonstige Entwicklung Russlands nachhaltig beeinflussen.
Klein: Die Prognose von Ruprecht Polenz, CDU-Bundestagsabgeordneter, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Danke Ihnen für das Gespräch, Herr Polenz.
Interview im Deutschlandfunk vom 27.8.2008