Festrede von Rupecht Polenz anlässtlich des "Tages der Heimat" des Bundes der Vertriebenen am 21. September in Münster. "Als ich vor einigen Wochen gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könne, beim diesjährigen „Tag der Heimat“ die Gedenkrede zu halten, habe ich gern zugesagt. Denn leider ist das Thema Flucht und Vertreibung auch heute aktuell, weil auch jetzt, während wir hier im Festsaal des Rathauses sitzen, irgendwo auf der Welt Menschen auf der Flucht sind, Menschen vertrieben werden: in Georgien, im Sudan, in Südafrika oder Simbabwe.
Ruprecht Polenz beim "Tag der Heimat" (Foto: Münstersche Zeitung) Als Außenpolitiker sucht man nach Lösungen, um Konflikten rechtzeitig vorzubeugen. Leider oft vergeblich. Wenn ein Krieg oder Bürgerkrieg ausgebrochen ist, wenn Hass und Gewalt erst einmal die Oberhand gewonnen haben, ist es für viele Menschen zu spät, bedeutet es für sie Tod und Leid, Vertreibung und Flucht.
Dann geht es um humanitäre Hilfe. Es geht darum, ein Schweigen der Waffen zu erreichen und mühsam an einer Überwindung des Konflikts zu arbeiten, vertrauensbildende Maßnahmen zu treffen und Versöhnungsprozesse einzuleiten. Dieser Weg kann lange dauern, wie wir auf dem Balkan sehen können.
Wenn wir in den Nahen Osten schauen, sehen wir, wie Flüchtlingsfragen, die seit Jahrzehnten ungelöst sind, bis heute einer stabilen Friedenslösung für Israel und die Palästinenser entgegenstehen.
Manchmal möchte man die Zuversicht verlieren, dass es gelingen könnte, für diesen oder die anderen Konflikte eine Lösung zu erreichen. Ich schöpfe dann immer Hoffnung, wenn ich an Versöhnungsprozesse denke, die gelungen sind oder die sich auf einem guten Weg befinden. Wenn wir uns also am „Tag der Heimat“ gemeinsam erinnern und darum bemühen, zu verstehen, können wir daraus auch Kraft und Hoffnung schöpfen für die Lösung heutiger Konflikte.
Meine Damen und Herren,
„Erinnern und Verstehen“ – diese Aufforderung haben Sie dem „Tag der Heimat“ in diesem Jahr als Überschrift gegeben.
Ich möchte Sie zu diesem Motto beglückwünschen. Es wendet den Blick zwar in die Vergangenheit, ist aber gleichzeitig der Zukunft verpflichtet.
Denn aus diesem Begriffspaar „Erinnern und Verstehen“ lässt sich das Fundament für eine auf Aussöhnung und Verständigung gerichtete Politik gewinnen, die mir als deutschem Außenpolitiker gegenüber den von Nazi-Deutschland überfallenen Ländern besonders am Herzen liegt.
Gewiss gehören zu einer auf Aussöhnung und Verständigung gerichteten Politik, die in eine gemeinsame, bessere Zukunft weisen soll, noch mehr: Begegnungen, gemeinsame Projekte und gegenseitiges Vertrauen, das daraus erwächst.
Aber dieser Prozess beginnt mit dem Bemühen um das Verstehen des Geschehenen und das Verstehen des Anderen. Beides ist nicht möglich, ohne sich zu erinnern. Dabei geht es nicht nur um die eigene Erinnerung, sondern auch um Verständnis für die Erinnerung der anderen.
Erinnern und Verstehen sind also auch für die aktuelle Politik gegenüber unseren europäischen Nachbarn, vor allem gegenüber jenen im Osten, zentrale Kategorien.
Auch deshalb habe ich gern zugesagt, als die Anfrage kam, ob ich bereit wäre, beim diesjährigen „Tag der Heimat“ zu Ihnen zu sprechen.
Der Bund der Vertriebenen begeht diesen Tag seit 1950.
In diesem Jahr wurde die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ verkündet. Fünf Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges haben Sie damit ein auf Versöhnung zielendes Zukunftsprogramm beschlossen:
„ …
1. Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches insbesondere das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.
2. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europa gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.
3. Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas.
...“
Meine Damen und Herren,
als Außenpolitiker muss ich mich mit vielen Konflikten auf dieser Welt beschäftigen - vorbeugend, damit es nicht zu Schlimmerem kommt.
Oft geht es aber auch um die Folgen von Konflikten, die Folgen von Krieg und Bürgerkrieg, von Vertreibungen und ethnischen Säuberungen.
Natürlich unterscheiden sich diese Konflikte nach Vorgeschichte, Ursache, Verlauf und Ausmaß.
Aber für eine dauerhafte Lösung, die Für die Zukunft Frieden und Stabilität erwarten lässt, würde ich mir eine Versöhnungsbereitschaft wünschen, wie sie aus der Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950 spricht.
Gerade komme ich aus Georgien zurück. Dort wurden in dem Bürgerkrieg zwischen 1990 und 1992 etwa 250.000 Georgier aus Abchasien vertrieben. Jetzt sind aus Südossetien mehrere zehntausend Georgier geflohen oder vertrieben worden.
Letzten Herbst war ich in der Westbank und wir alle wissen, dass zu einer dauerhaften Lösung des Nahost-Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern auch eine Lösung des Flüchtlingsproblems gehört.
In den Ländern, die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen sind, belasten die mit Krieg und Bürgerkrieg einhergegangenen ethnischen Säuberungen und Vertreibungen bis heute die Beziehungen untereinander schwer.
Auf dem afrikanischen Kontinent sind Vertreibung und Flucht alltäglich. Ich habe das Bild von Frauen und Kindern vor Augen, die vor dem Diktator Mobutu aus Simbabwe nach Südafrika geflohen waren und jetzt von südafrikanischem Mob über die Grenze zurückgejagt werden, weil sie den Südafrikanern angeblich Arbeit und Brot wegnehmen.
Meine Damen und Herren,
Flüchtlingsschicksal: das sind die Schrecken und die Angst um das eigene Leben und das Leben seiner Kinder und Angehörigen.
Flüchtlingsschicksal: Das ist der Verlust von Hab und Gut, der Verlust der Heimat.
Sie und Ihre Angehörigen haben dieses Schicksal erlitten. Es ist richtig, heute daran zu erinnern.
Ihre Gedanken gehen heute zurück in die 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts: Flucht in Schnee und Eis vor der heranrückenden Roten Armee –
die Vertreibung aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, der Tschechoslowakei.
Mit dem Münchner Abkommen 1938 und dem Überfall auf Polen hatte Nazi – Deutschland in verbrecherischer Weise den 2. Weltkrieg begonnen, grausam geführt und unermessliches Leid über Polen, Russland, Europa, ja die ganze Welt gebracht.
Jetzt wurde auch Deutschland und das deutsche Volk Opfer des von ihm selbst begonnenen Krieges. Viele haben ihr Leben verloren, wurden schwer verwundet, wurden ausgebombt.
Wer, so wie Sie als Vertriebene, in der Folge des 2. Weltkriegs seine Heimat verloren hat, musste ebenfalls ein außerordentliches Opfer erbringen.
Denn es ist ja wahr: für den Krieg und die nationalsozialistischen Gewalttaten waren die Menschen in Pommern oder Schlesien genauso viel oder genauso wenig verantwortlich wie die in Bayern oder Westfalen, die ihre Heimat nicht verloren haben.
Fast 15 Millionen Deutsche wurden am Ende des Zweiten Weltkrieges vertrieben. 15 Millionen Heimatlose, ohne Hab und Gut. Menschen, die Angehörige, Freunde und Bekannte verloren hatte.
Sie standen buchstäblich vor dem Nichts. Und sie alle drängten in ein Land, welches selber am Boden lag. Geplagt von einer grausamen Hungersnot. In einer Zeit, in der selbst das Aufsammeln von Bucheckern und Tannenzapfen genehmigungspflichtig war. Es ging um das nackte Überleben. Zum Tauschen hatten die Vertriebenen nichts. Sie hatten alles verloren.
Meine Mutter stammt aus Oberschlesien, aus Beuthen. Die Eltern meiner Frau stammen aus Pommern. Meine Schwiegermutter war mit Pferd und Wagen auf einem der vielen Trecks nach Westen dabei. Ich weiß aus ihren Geschichten, wie knapp es manchmal war, dass man mit dem Leben davon kam – und dass viele es nicht geschafft haben. Auch daran erinnern wir uns heute.
Meine Damen und Herren,
Der Mensch wird sich der Bedeutung von Heimat oft erst bewusst, wenn er sie verloren hat. Und die Flüchtlinge und Vertriebenen verloren sie zweimal: An dem Tag, an dem sie ihre Heimat verlassen mussten und später, als sie erkennen mussten, dass es keine Hoffnung auf Rückkehr geben würde.
Eine Hoffnung erstirbt. Diesen Schmerz gilt es zu verstehen. Daran gilt es zu erinnern, um dem Vergessen zu begegnen.
Meine Damen und Herren,
es war richtig, vor 58 Jahren in der Charta der Heimatvertriebenen die Hand zur Versöhnung auszustrecken, auch wenn das damals nicht jedem leicht gefallen sein mag.
Und es war geradezu visionär, sich für ein freies und geeintes Europa einsetzen zu wollen.
Heute gehört ihre alte Heimat zu diesem geeinten Europa. Nationalstaatliche Grenzen haben zwar noch ihre Bedeutung, aber sie verlieren immer mehr das Trennende zwischen den Völkern.
Dazu tragen auch viele Initiativen bei, mit denen Heimatvertriebene Brücken aus Deutschland in ihre alte Heimat schlagen.
Ich möchte nur auf die beispielhafte Arbeit des Westpreußischen Landesmuseums in Münster hinweisen, das außerordentlich erfolgreich mit Museen in Polen zusammenarbeitet, um die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte zu pflegen.
Trotzdem war zwischenzeitlich sein Bestand gefährdet. Ich habe mich für das Museum eingesetzt und bin sehr froh, dass es mit vereinten Kräften gelungen ist, das Westpreußische Landesmuseum in Münster zu halten.
Auch die Städtepartnerschaft zwischen Münster und Lublin dient dem Brückenschlag zwischen Deutschen und Polen. Wir haben einen Förderverein Münster-Lublin, in dem sich viele Bürgerinnen und Bürger engagieren und der diese Städtepartnerschaft mit Ideen und Leben erfüllt. Sie haben dies mit den Freunden aus Lublin so erfolgreich getan, dass diese Städtepartnerschaft vom polnischen Botschafter als die erfolgreichste deutsch-polnische Städtepartnerschaft ausgezeichnet wurde.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
vor einer Woche berichtete die FAZ unter der Überschrift „Sichtbare Zeichen“: Erstmals Ortsschilder auf Polnisch und Deutsch in Schlesien. Und auf dem abgedruckten Foto konnte man sehen, dass die Besucher von „Kolonia Biskupska“ auf dem Ortsschild künftig auch den deutschen Namen „Friedrichswille“ werden lesen können. Radlau, Lubowitz und 23 weitere Gemeinden im Oppelner Land werden folgen.
Ich habe mich darüber gefreut. Diese zweisprachigen Ortsschilder sind nicht nur sichtbare Zeichen für die Rechte der deutschen Minderheit in Polen, sondern sie bringen auch einen Willen zu Gemeinsamkeit und Miteinander zum Ausdruck.
In diesem Geist sollten wir uns erinnern. Erinnerung sollte nicht alte Wunden immer wieder neu aufreißen und so ihr Vernarben verhindern. Erinnerung sollte die Suche nach einer gemeinsamen Erinnerungskultur einschließen mit denen, die jetzt in der alten Heimat leben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.