Ruprecht Polenz

Von Russland annektiert

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. Oktober 2008 bezieht Ruprecht Polenz Stellung zum Kaukasus-Konflikt, der russischen Außenpolitik und den deutsch-russischen Beziehungen:

Von Russland annektiert

Manchmal versteht der Zuschauer das Drehbuch besser, wenn er das Ende des Films gesehen hat. Die gleichlautenden Verträge über "Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe", die Russland mit den abtrünnigen georgischen Provinzen abgeschlossen hat, lassen den Konflikt im Kaukasus in einem neuen Licht erscheinen. deutsch-russischen Beziehungen.
Kurz nachdem Russland Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkannt hat, vereinbarte Präsident Medwedjew mit seinen "Kollegen" Bagapsch und Kokojty eine gegenseitige Beistandspflicht im Angriffsfall und das Recht zur Stationierung von Truppen (die Rede ist von jeweils 3500 russischen Soldaten). Vorgesehen sind darüber hinaus Schritte zur Vereinigung der Energieund Verkehrssysteme, die Zusammenführung des Post- und Fernmeldewesens und der Telekommunikationssysteme, die Festschreibung des Rubel als Zahlungsmittel sowie die Möglichkeit einer doppelten Staatsangehörigkeit. Die Außenvertretung von Abchasien und Südossetien übernimmt Russland. Mit einer Unabhängigkeit der beiden Gebiete hat das nicht mehr viel zu tun. Die Provinzen Abchasien und Südossetien, die völkerrechtlich nach wie vor zu Georgien gehören, sind von Russland de facto annektiert worden.

Schon am 16. April dieses Jahres hatte Präsident Putin die russischen Behörden angewiesen, quasioffizielle Beziehungen zu Abchasien und Südossetien aufzunehmen. Vielleicht wurde die Formulierung der "Freundschaftsverträge" zur gleichen Zeit in Auftrag gegeben. Die Eskalation des Konflikts durch das militärische Vorgehen Georgiens in der Nacht vom 7. auf den 8. August, von dem Russland sogar überrascht gewesen sein mag, ließ sich jedenfalls leicht in das Drehbuch zur Annexion einarbeiten. Der "Aggressor Georgien" lieferte die Argumente für das russische Vorgehen frei Haus.

In diesen Tagen finden deutsch-russischen Regierungskonsultationen statt. Es gilt, die Dinge beim Namen zu nennen. Russland muss deutlich gemacht werden, dass sein völkerrechtswidriges Verhalten nicht akzeptiert wird. Man sollte Russland schon jetzt warnen, die Olympischen Winterspiele in Sotschi auf abchasisches Gebiet auszudehnen.

Außerdem besteht jetzt doppelt Anlass, Klarheit über die sogenannten "Medwedjew-Grundsätze" zu verlangen, nach denen es zu den Prioritäten russischer Außenpolitik gehöre, Leben und Würde russischer Staatsbürger zu schützen, "wo immer sie sind". Versteht Russland darunter etwas anderes als konsularischen Schutz durch seine Botschaften? Schließlich hatte Russland den Schutz seiner Staatsbürger auch als Grund für die militärische Intervention in Südossetien angeführt, nachdem es zuvor in beiden georgischen Provinzen sehr freigebig mit der Ausgabe russischer Pässe gewesen war.

Nach dem Abschluss der "Freundschaftsverträge" mit Abchasien und Südossetien wüsste man auch gern, wie Russland es mit der Souveränität von Staaten wie Georgien hält, die in Regionen liegen, wo Russland aufgrund der Medwedjew-Grundsätze "privilegierte Interessen" geltend macht.

Es ist ja nicht nur der Bürgermeister von Moskau, Jurij Luschkow, der die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine in Frage stellt. In der Diskussion über den Vertrag zur Stationierung der russischen Schwarzmeer-Flotte sind nahezu täglich russische Stimmen zu hören, die Sewastopol als russische Stadt bezeichnen und mit drohendem Unterton verkünden, man werde den Stützpunkt auch nach Auslaufen der Verträge im Jahr 2017 keinesfalls aufgeben. Und obwohl die ukrainische Verfassung eine doppelte Staatsangehörigkeit verbietet, geben russische Behörden auf der Krim munter russische Pässe aus.

Wir wollen eine deutsch-russische Partnerschaft, und -wir wollen ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen der EU und Russland. Aber dann muss Russland sich auch als Partner verhalten und nicht wie eine imperiale Großmacht, die sich um Recht und Gesetz nicht zu kümmern braucht. Zu fairer Partnerschaft ist es offensichtlich noch ein weiter Weg. Bis dahin müssen wir Russland so nehmen, wie es ist; nicht so, wie wir es uns wünschen.

Der Verfasser ist Mitglied des Bundestages (CDU) und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses.

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