„Feigheit vor dem Volk“ wirft Richard David Precht auch den 442 Bundestagsabgeordneten von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen vor, die für die deutsche Beteiligung am ISAF - Einsatz in Afghanistan gestimmt haben. Er fordert einen Aufstand der Intellektuellen und will wohl mit seinem Essay schon mal den Anfang machen: gelehrt, wie es sich für einen Philosophen gehört, eloquent und offensichtlich völlig frei von Zweifel oder Skepsis. Darin unterscheidet er sich von vielen meiner Kolleginnen und Kollegen, die sich ihre Entscheidung wirklich nicht einfach gemacht haben.
Deutschland verteidige am Hindukusch nicht seine Sicherheit, sondern verstoße gegen das Völkerrecht, behauptet Precht, bezichtigt den früheren Verteidigungsminister Struck der Lüge und fordert den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Es kümmert ihn nicht, dass das Bundesverfassungsgericht eine entsprechend begründete Klage der Linken abgelehnt hat. Auch die über 40 Länder, die sich zusammen mit Deutschland im Auftrag der Vereinten Nationen und auf Bitte der afghanischen Regierung an ISAF beteiligen, beurteilen die völkerrechtliche Lage anders.
Alle Attentäter des 11. September hatten sich über Wochen und Monate in Trainingscamps der al-Qaida in Afghanistan vorbereitet. Die Anschläge in Bali, Djerba, London oder Madrid, bei denen auch Deutsche unter den Opfern waren, machen deutlich, dass auch unsere Sicherheit bedroht ist, wenn Afghanistan wieder ein sicherer Rückzugsraum wird.
Deutschlands Sicherheit müsse wohl in Berlin verteidigt werden gegen diejenigen, die die Bundesrepublik durch ihre Afghanistan-Abenteuer fahrlässig zur Zielscheibe von Terroristen machten, versteigt sich Precht nach dem Motto: Raushalten, dann tut uns auch niemand was.
Aber auch ein Philosoph sollte wissen, dass der Terrorismus von der Unschuld seiner Opfer lebt.
Precht mokiert sich darüber, dass Verteidigungsminister Jung nicht von Krieg sprechen will. Er falle sprachlich damit hinter die Gebrüder Grimm zurück. In Deutschland wird Krieg aber vor allem mit Bildern des 2. Weltkriegs assoziiert, ein offensichtlich untaugliches Bild, um die Realität in Afghanistan zu beschreiben, wie vermutlich auch die Gebrüder Grimm gefunden hätten. Und völkerrechtlich ist es ein Kampfeinsatz nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen.
Es ist ein Fortschritt, dass die USA nicht mehr vom „Krieg gegen den Terrorismus“ sprechen. Wir haben diese Terminologie immer kritisiert, weil dadurch ein Primat des Militärischen bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus suggeriert wurde. Kein Grund jedenfalls, um Obama mit einem Orwell-Zitat eine Sprache vorzuwerfen, die geschaffen sei, Lügen wahrhaft und Mord respektabel klingen zu lassen..
Precht hat ja Recht damit, dass militärische Mittel nicht ausreichend sind, um in Afghanistan Erfolg zu haben. Aber weshalb dann der kalte Zynismus, es könne ja immerhin sein, dass die Bundeswehr am Hindukusch „einigen Menschen das Leben gerettet, ein paar Straßen friedlich gemacht und ein paar Frauen und Schulkindern das Leben erleichtert“ habe?
Unter den Taliban war für Frauen und Mädchen jegliche Bildung bei Strafe verboten. Heute gehen über 6 Millionen Kinder zur Schule und die 19 Universitäten werden selbstverständlich auch von Frauen besucht. Weil Sicherheit und Wiederaufbau zusammengehören, konzentrieren wir diese Hilfe im Rahmen einer Strategie vernetzter Sicherheit auf Afghanistan.
Man solle die Taliban doch Taliban sein lassen, empfiehlt Precht implizit und nicht den Afghanen die westliche Art zu leben aufzwingen. Aber das tut auch niemand. Ihre Verfassung haben sich die Afghanen unter dem Schutz der internationalen Gemeinschaft in einer Volksabstimmung selbst gegeben. Demnächst werden sie zum zweiten Mal auf dieser Grundlage ihren Präsidenten und das Parlament wählen. Über 600 Zeitungen, 90 Radio- und 30 Fernsehstationen können darüber frei berichten.
Mullah Omar, der Führer der Taliban, lässt an seinen Zielen keinen Zweifel: Alle ausländischen Truppen sollen abziehen, die Verfassung und alle anderen Reformen sollen rückgängig gemacht werden und die Taliban sollen wieder herrschen wie in den 90er Jahren.
Das wollen laut Meinungsumfragen nur vier Prozent der Afghanen.
Was würde geschehen, wenn die Politik dem Rat von Richard David Precht folgte, und die Soldaten sofort abzöge? Viel spricht dafür, dass sich wiederholen würde, was 1989 nach dem Abzug der Sowjetunion geschah: Bürgerkrieg und ein Sieg der Taliban in weiten Teilen des Landes. Bin Laden würde sich damit brüsten, nach der Sowjetunion jetzt auch den Westen besiegt zu haben und könnte die Anziehungskraft von al-Qaida in gewaltbereiten extremistischen Kreisen dramatisch steigern – mit unabsehbaren Folgen weltweit.
Schon jetzt ermorden die Taliban gezielt Lehrer oder Polizisten. Das zeigt, was Afghanen zu erwarten hätten, die jetzt mit unserer Hilfe ihr Land aufbauen wollen. Sie haben sich auf uns verlassen. Wir tragen für sie Verantwortung.
Auch deshalb müssen unsere Soldaten so lange in Afghanistan bleiben, bis die afghanische Armee und die einheimische Polizei selbst für Sicherheit sorgen können. Wir verstärken gemeinsam mit über 40 Staaten dieser Welt unsere Anstrengungen, damit dies möglichst bald der Fall ist. Ohne Frieden in Afghanistan gibt es auch für uns keine Sicherheit.
Das Essay von Richard David Precht erschien im "Spiegel" Nr. 32/2009
Diese Antwort von Ruprecht Polenz druckte der "Spiegel" in gekürzter Fassung als Leserbrief in Nr. 34/2009