Ruprecht Polenz

„Ausmaß der Zerstörungswut nicht für möglich gehalten“ Krawalle in Großbritannien

CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz erklärt im Interview mit FOCUS Online die Ursachen der englischen Krawalle – und Unterschiede zu anderen Ländern. Dass sich die Gewalt auf der Insel derart heftig Bahn bricht, hätte er aber nicht für möglich gehalten.

FOCUS Online: Haben Sie eine derartige Eskalation der Gewalt in Großbritannien für denkbar gehalten? Sie sind Vorsitzender des Ausswärtigen Ausschusses im Bundestag. Gab es Signale, die übersehen wurden?

Ruprecht Polenz: Dieses Ausmaß von Gewalt, Zerstörungswut, Plünderei und Brandschatzung habe ich nicht für möglich gehalten. Man muss allerdings im Blick haben, dass in Großbritannien der Unterschied zwischen oben und unten wesentlich größer ist als beispielsweise in Deutschland. Daraus resultieren zwangsläufig Spannungen. Allerdings ist klar: Soziale Probleme sind keine Rechtfertigung für Gewalt.


FOCUS Online: Wie konnte es so weit kommen? Liegt ein Fehler darin, dass das Land sich als Industrienation verabschiedet hat und weiten Teilen der Bevölkerung keine Perspektive bieten kann?

Polenz: Es fängt mit dem Bildungswesen an. Das öffentliche Schulsystem hat große Schwächen. Was sich derzeit entlädt, ist die zunehmend wahrgenommene Perspektivlosigkeit der jüngeren Generation. Es gibt keine kompensatorische Bildung, die die Chance eröffnet, aus der Schicht herauszuwachsen, in die man hineingeboren ist. Hier zeigen sich die Auswirkungen lang andauernder Versäumnisse.

FOCUS Online: Einige Kommentatoren vergleichen die Lage in Großbritannien mit dem arabischen Frühling. Passt dieser Vergleich?

Polenz:
Nein. Wenn man für die aktuelle Lage einen Vergleich sucht, dann passen dazu am ehesten die Krawalle in den Vorstädten von Paris. Auch dort hatten oder haben Jugendliche das Gefühl, aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu sein. Wer die Vorgänge jetzt mit Nordafrika in Verbindung bringt, verkennt die völlig unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Großbritannien ist eine gefestigte Demokratie. Die Schwächen, die in der Gesellschaft vorhanden sind und angegangen werden müssen, können offen und ohne Angst benannt werden. Das geschieht ja, wenn auch bislang ohne den notwendigen Veränderungsdruck und ohne konkrete Ergebnisse. Von daher kann man die Lage nicht vergleichen mit der in Ägypten oder Tunesien, wo es überaus schwierig war und ist, gesellschaftliche Missstände zu benennen. Abgesehen davon, dass die soziale Lage in Großbritannien trotz aller Probleme deutlich besser ist als in den Ländern Nordafrikas.

FOCUS Online: Ist es aber nicht auch Ausdruck einer Krise der Demokratie, wenn junge Menschen keine andere Veränderungschance sehen als Gewalt?

Polenz: Demokratie stellt die notwendigen Mechanismen zur Verfügung, um sich über Veränderungsbedarf gewaltfrei auszutauschen und Wandel durch Argumente zu erzwingen. Leider muss man zur Kenntnis nehmen, dass Unterschichten sich aus einer Reihe von Gründen nicht in dem erforderlichen Umfang beteiligen, vielleicht auch nicht beteiligen können. Ein Grund dafür ist sicher auch wieder, dass sie über das Bildungswesen nicht genügend über die Instrumentarien der Demokratie gelernt haben. Deshalb müssen die gesellschaftlichen Kräfte, die das können, eine inklusive Politik betreiben. Es kommt darauf an, alle Teile der Gesellschaft mitzunehmen. Es muss verhindert werden, Teile der Gesellschaft an den Rand zu drängen. Ansonsten wächst das Risiko der Eskalation, wie wir sie derzeit erleben.

FOCUS Online: Vor den Unruhen in Großbritannien gab es wütende Jugendliche auf Spaniens Straßen. In Griechenland gab es gewalttätige Demonstrationen. Wird die Europäische Union zunehmend instabil?

Polenz: Davon gehe ich nicht aus. Die Lage in den einzelnen europäischen Ländern ist sehr unterschiedlich. In Deutschland etwa haben wir dank der dualen Berufsausbildung ein wesentlich besseres Bildungssystem gerade auch für junge Leute, die in theoretischem Lernen schwächer sind. Durch dieses System ist der Übergang von Schule zu Beruf wesentlich besser begleitet und damit erfolgversprechender angelegt. Das hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass die Jugendarbeitslosigkeit überwiegend geringer ausfiel als die allgemeine Arbeitslosigkeit. Das ist eine einmalige Situation in Europa.

FOCUS Online:
Kann man sich einfach auf diese Position zurückziehen und hoffen, dass Vergleichbares hierzulande nicht passiert?

Polenz: Das Bildungswesen muss immer wieder auf den Prüfstand und immer weiter verbessert werden. Europa insgesamt muss sich bemühen, die Bildungschancen für die jungen Generationen zu verbessern. Das ist zum einen erforderlich, weil jedem Kind die gleichen Chancen zukommen müssen. Das ist aber auch notwendig, wenn unser alternder Kontinent zukunftsfähig bleiben will. Wir können uns auch aus ökonomischen Gründen nicht leisten, dass weite Teile der Bevölkerung mangels Bildung nicht in der Lage sind, am Wirtschaftsprozess teilzunehmen und damit auch die Grundlagen für soziale Sicherung zu legen.

FOCUS Online: Kann die Politik in Großbritannien aktuell mehr tun, als mit hohem Polizeiaufgebot für Ruhe zu sorgen?

Polenz: Im Augenblick muss es darum gehen, die Gewalt einzudämmen und Ruhe und Ordnung wieder herzustellen. Das wird allerdings leichter, wenn die Botschaft erkennbar ist: Wir haben verstanden, es wird sich etwas ändern. Nun lassen sich politische Programme auch nicht aus dem Boden stampfen. Es muss aber deutlich werden, dass man sich nicht nur an der Ahndung der kriminellen Aktionen der vergangenen Tage abarbeitet – so wichtig und notwendig das auch im Sinne der Geschädigten ist. Es muss vielmehr klar sein, dass das explosive Gemisch, das die Ursache für die Unruhen ist, entschärft werden soll. Es geht um Armutsbekämpfung. Die gelingt nicht durch Umverteilung, sondern allein durch Arbeit. Und dazu kommt man eben nur über Bildung.

Das Interview führt Martina FIetz für Focus-Online am 10.08.201, nachzulesen hier.